Fotos : © Bertrand Duquenne
„Denken Sie daran: In dem Moment, in dem Sie aus der Marina Pichilingue fahren, verlassen Sie die Zivilisation!“, warnt uns der Chef der Moorings-Basis kurz vor unserem Start in La Paz, der Hauptstadt von Baja California Sur. Nach knapp drei Stunden Segeln in menschenleerem Gewässer wissen wir, dass er nicht übertrieben hat.
Der Kontrast zum typisch mexikanischen La Paz, seinen knalligen Farben, belebten Markthallen, feurig scharfen Speisen, seiner Latino-Musik und den Mariachis könnte nicht grösser sein. Am Morgen noch waren wir in der Stadt, liessen uns von der Menschenmenge treiben, vorbei an Verkaufsständen und Schuhputzern. Ein paar lässig geschluckte Seemeilen und schon sind wir wunderbar allein.
Wir ankern in Puerto Ballena, einer weiten Bucht einer betörend wilden Insel, die von jeglicher menschlicher Präsenz verschont ist. Unser Katamaran ist in eine asketisch anmutende Welt vorgedrungen, ein trockenes Universum inmitten von Wasser. Vor uns richten sich kahle, terracottarot leuchtende Felsen auf. Die Vegetation ist minimalistisch und von Kakteen beherrscht – eine Kulisse wie im Wilden Westen, aber direkt am Meer!
Wer einen Fuss an Land setzt, ertrinkt in einer Welt aus Stein, Fels und Geröll. Wer könnte sich der Faszination dieser von Wasser umgebenen Wüste entziehen? Auch die Hitze, die jeden Schritt beschwerlicher macht, hindert uns nicht, die ungezähmte Landschaft zu erkunden. Mit einem Stab auf den Boden schlagend, um die gefürchteten Klapperschlangen zu vertreiben, machen wir uns an die Besteigung des Gipfels oberhalb der Bucht. Verbissen kämpfen wir uns voran. Der Aufstieg ist steil, stellenweise fast senkrecht und führt durch eine wilde Ansammlung aus Steinblöcken, die durch die Zuckungen der Erdkruste durcheinandergewürfelt wurden.
Auf dem Gipfel aber werden wir für die Strapazen belohnt. Keuchend geniessen wir den freien Blick auf die abgeschiedene Welt. Das einzige Zeichen menschlicher Anwesenheit ist die Carribean Reef. Sie zerrt müde am Vertäuseil, nur eine Kabellänge von einem langen, weissen Strand entfernt. Er erstreckt sich bogenförmig zwischen zwei kargen Gebirgsmassiven. Über unseren Köpfen gleiten lautlos majestätische Fregattvögel, während sich auf offener See die Wasserfontänen der blasenden Wale abzeichnen. Uns umgibt ein Panorama von einer fast mystischen Kraft. Schon bei unserem ersten Zwischennstopp mutiert unser Törn zu einem mythischen Erlebnis!
Schlaraffenmeer
Die Cortes-See, auch Golf von Kalifornien, steht seit 2005 auf der Liste des UNESCO-Welterbes. Sie trennt die lange Halbinsel Niederkalifornien von Mexiko. Da wir nicht über unendlich viel Zeit verfügen, um die 244 Inseln und die über 2500 Kilometer Küsten zu besuchen, konzentrieren wir uns auf die Inseln unmittelbar nördlich von La Paz, die seit 1993 als Biosphärenreservat geschützt sind. Sie reichen aus, um das Schlaraffenmeer in seinem ganzen Reichtum zu entdecken. 39 Prozent aller Meeressäugetiere und ein Drittel der Walarten der Welt leben hier.
Beim Segeln gibt es keine besonderen Schwierigkeiten zu beachten. Es wird vor allem auf Sicht gesegelt, denn die Karten überraschen manchmal mit poetischen Freiheiten. Das Gebiet wird durch eine nicht immer sehr genaue Karte im Massstab 1:140’000 abgedeckt. Ihre topografischen Daten wurden 1885 erfasst! Glücklicherweise können die Angaben mit dem wertvollen Sea of Cortez Cruising Guide ergänzt werden. Er enthält viele, von grosszügigen Fahrtenseglern zusammengetragene Tipps.
Aufgrund der unpräzisen Karten und der wenigen Lichter wird von nächtlichen Fahrten abgeraten. Moorings verbietet sie sogar. Das Tagesprogramm richtet sich nach den vor Sonnenuntergang (während unseres Törns gegen 18.30 Uhr) erreichbaren geschützten Ankerplätzen.
Der Rausch der Einsamkeit

Wir sind ausserhalb der VHF-Reichweite von La Paz und empfangen über Funk nur noch wenige Langwellensender. Sie knistern gewaltig, erfüllen unseren Salon aber immerhin mit Latino-Stimmung, auf die wir mit einem Glas Tequila anstossen.
Draussen funkeln die Sterne mit einer in unseren Breitengraden unbekannten Leuchtkraft. Ein ergreifendes Schauspiel! Während der vielstimmige Gesang der Insekten zu uns herüberdringt, versinken unsere beiden Rümpfe in einer dicken Krill-Suppe, die aussieht wie eine aus der Meerestiefe emporgestiegene Milchstrasse. Im Lichtstrahl unserer Taschenlampe entpuppt sie sich als Anhäufung unzähliger Kleinkrebse, die Lieblingsnahrung der Wale. Sobald sie die Wasseroberfläche erreicht haben, machen sich grössere Krebse über sie her.
Jede Welle schwemmt neue Krill-Schwärme heran. Bei Sonnenaufgang werden wir von knallenden Geräuschen geweckt. Dieses Ritual begleitet uns fortan jeden Morgen. Mit angewinkelten Flügeln und gestrecktem Körper fischen Pelikane ihre Mahlzeit aus dem Wasser, indem sie sich mit voller Wucht und offenem Schnabel aufs Meer plumpsen lassen. Das heftige Geräusch hallt an den steilen, die Bucht umgebenden Felsen wider. Unmöglich, wieder Schlaf zu finden. Der Wunsch, an Deck zu springen und einmal mehr das wilde Schauspiel der Cortes-See zu bestaunen, ist stärker.
Caleta Partida, El Cardoncito, Ensanada Grande, El Embudo… Auf die Insel Espirito Santo folgen die Isla La Partida, die Isla Sanfrancisco und die Isla San José, alles unveränderlich wilde Zwischenstopps mit chaotischen Landschaften und steil ins Meer abfallenden Klippen, stachligen Kakteen und wunderlichen Höhlen. Wir sind ständig auf der Suche nach dem richtigen Kompromiss: Eigentlich möchten wir jede einzelne Bucht und jeden Felsen besuchen, sind aber gezwungen, nachts den Anker zu werfen.
Westerndorf auf einem Felsen
Bevor wir Richtung Süden weiterziehen, nähern wir uns der Insel Coyote. Auf dem kleinen, nur wenige Dutzend Meter langen und breiten Felsen leben Fischerfamilien in völliger Abgeschiedenheit.
Schwer vorstellbar, wie Menschen auf diesem kantigen, nackten Stein leben konnten. Beim Umfahren des Eilandes entdecken wir auf einem erhöhten Felsen ein kleines Dorf, das den Hurricanes und Chubascos wehrlos ausgeliefert ist. Kein Wasser, kein Strom und als einziger Schutz ein winziger Kieselstrand, auf dem ein paar Fischerboote liegen. Keine Menschenseele weit und breit. Hier in dieser rauen nicht wirklich ansprechenden Landschaft steht die Zeit still. Ein geschlossener Mikrokosmos, der dem Besucher nahezulegen scheint, weiterzuziehen. Kaum sind wir an Land, erscheinen an den vier Ecken des Weilers Gestalten mit verschlossenen Gesichtern. Stattliche Kerle, Eindruck schindend durch ihre Wortkargheit und ihre sonnen- und salzgegerbten Piratenvisagen. Voller Argwohn wechseln sie ein paar Worte und stellen uns dann die alles entscheidende Frage: „Gringos?“
Unsere verneinende Antwort wirkt wie eine Zauberformel. Die Ablehnung verschwindet auf einen Schlag. Wir dürfen die Insel erkunden und das Dorf besuchen, dessen Fassaden und Gassen mit Walgerippe geschmückt sind. Ein starkes Erlebnis! Wir geben uns zurückhaltend, schliesslich sind wir als Gäste hier.
Gemächlich vor dem Wind segelnd lassen wir Coyote bald hinter uns. Neben der Einhaltung unserer Route besteht die Haupttätigkeit an Bord im Ausschauhalten nach Meeressäugern. Unser Hunger nach Begegnungen mit den eindrücklichen Tieren ist nicht zu stillen. Mehrmals sehen wir riesige Grauwale. Die Rückenflossen aufgerichtet, beehren uns majestätischen Kolosse mit spritzenden Fontänen. Noch spektakulärer sind ihre Sprünge, bei denen ihre unbändige Kraft deutlich zur Geltung kommt.
Die Grauwale pilgern jedes Jahr vom Nordpolarmeer hierher, um sich fortzupflanzen und zwischen Dezember und März ihre Jungen zur Welt zu bringen. Sie teilen sich die Gewässer mit Delfinen, Pottwalen, Buckelwalen, Finnwalen, Seelöwen, Ohrenrobben, Mantarochen und in Rudeln auftretenden Hammerhaien. Nirgendwo sonst auf der Welt trifft man auf eine solche Anhäufung von Meerestieren!
Der Ruf des Abenteuers
Der verrückte Tag geht seinem Ende zu. Wir lassen ihn wie gewohnt an einem atemberaubend schönen Ankerplatz ausklingen. Jede Insel, jede Bucht spielt mit ihren Reizen, als wolle sie uns bezirzen. Wie Kinder folgen wir ihrem Ruf. Die Intensität unseres Törns ergibt sich aus der Fülle an Entdeckungen und der oft frustrierenden Notwendigkeit, eine Auswahl zu treffen, damit wir die knapp bemessene Zeit einhalten können. Jedes Mal macht sich der Wunsch breit, die Umgebung näher zu erkunden und sich bis zum Überdruss an den kurzlebigen Momenten zu laben.
Am letzten Morgen in der Cortes-See, auf Höhe der winzigen Insel Los Isoltes, beschenkt uns die Natur mit einem ultimativen Schauspiel. Eine Kolonie Seelöwen aalt sich in der Sonne und veranstaltet mit ihrem Brüllen, Fauchen und Bellen einen Höllenlärm. Wir geben der Verlockung nach und gesellen uns zu ihnen ins Wasser.
Peng! Eine Rakete taucht wie aus dem Nichts aus, streift uns und ist auch schon wieder verschwunden. Wir zucken zusammen. Ob es Aggressivität oder einfach nur Neugier ist? Die Weibchen und die Jungtiere kommen näher. Sie beantworten unsere Bewegungen mit Verrenkungen und in höllischem Tempo gedrehten Pirouetten. Einige springen in die Luft, um gleich danach vor unseren Füssen wieder einzutauchen. Sie sind überall: vor, hinter, über und unter uns. Beim Anblick ihres unbändigen Balletts wird einem schwindlig. Nach einer unvergesslichen Stunde fällt der Vorhang. Die Vorstellung der Unterwasserakrobaten ist zu unserem grossen Bedauern beendet. Die Natur hat uns einen weiteren ihrer Schätze preisgegeben. Riesige, über zwei Meter lange Männchen schwimmen langsam, aber bestimmt auf uns zu. Ihre Botschaft ist klar: Wir müssen gehen.
Wir sind nur kurzfristige Gäste. Es ist Zeit, die wilde und vertrauliche Cortes-See sich selbst zu überlassen. Auf nach La Paz! Der Gegensatz wird hart zu verdauen sein!
