Skippers

🏛 » Das 20. Jahrhundert im Regattafieber

Das 20. Jahrhundert im Regattafieber

von Christophe Vuilleumier

Geschichte ner Genfersee-Regattem

In der letzten Skippers-Ausgabe berichtete der Historiker und Toucan-Klassenpräsident Christophe Vuilleumier von den zaghaften Anfängen der Genfersee-Regatten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. In diesem zweiten Teil schildert er, wie sich die Regatten auf den ganzen Genfersee ausgebreitet haben und zur Tradition geworden sind. Rückblick auf eine Verkettung von Ereignissen, die dazu geführt haben, dass die Genfersee-Regatten zum immateriellen Kulturerbe der Schweiz erklärt wurden.

Wie der erste Teil des geschichtlichen Abrisses verdeutlicht hat, kann der Genfer Hafen getrost als Wiege der regionalen und nationalen Regattatradition bezeichnet werden. Die Gründe dafür liegen zum einen in der jahrhundertealten nautischen Tradition, zum anderen beim wohlhabenden Patriziat, das über den Segelsport seine elitäre gesellschaftliche Stellung untermauerte. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts fand das Genfer Beispiel im Waadtland und in Frankreich Nachahmer.

GENFERSEEBARKEN, ENDE DES 19. JAHRHUNDERTS. ©Musée du Léman

Die Regattatradition nimmt Gestalt an

Einer der ältesten Nachweise für die Austragung offizieller lokaler Regatten stammt aus dem Jahr 1880. Damals wurde die fünf Jahre später in Société Nautique Rolloise umbenannte Société de Navigation de Rolle gegründet. In ihren Statuten war festgehalten, dass alle Segelboote, unabhängig von ihrer Takelage, zu den Wettfahrten zugelassen waren. Noch weiter zurück reicht die Regattatätigkeit der 1846 ins Leben gerufenen Société vaudoise de navigation, meist nur «La Nana» genannt. Sie konzentrierte sich zunächst auf Ruderwettkämpfe und veranstaltete, nach der ältesten urkundlichen Erwähnung zu schliessen, erst 1854 Segelwettbewerbe. 1889 zog Evian mit seinem ersten Regattaprogramm nach. Allerdings nahmen ausschliesslich Boote der Société Nautique de Genève an der Premiere teil. Der Eigentümer des Siegerboots Eva erhielt eine vom Präsidenten der Französischen Republik gestiftete Vase aus Sèvres. Zwei weitere Preise gingen an Thétysund Grèbe. Ihnen wurde vom Yacht Club de France für die «Schönheit ihrer Manöver» je eine Medaille verliehen.
Im Juni 1902 legten die Société Nautique de Genève und die Société de navigation vaudoise mit dem Grand-Lac-Cup in Ouchy den Grundstein für eine langjährige Zusammenarbeit im Zeichen von Wettkampfgeist, Solidarität und Freundschaft. Ein Dampfschiff der Compagnie de navigation schleppte fünfzehn Genfer Sportboote in den Hafen von Lausanne, wo der Konvoi von Artilleriesalven und Jubelrufen der zahlreich erschienenen Zuschauerinnen und Zuschauer empfangen wurde. Die Mitglieder der verschiedenen Vereine traten nicht nur auf dem Wasser gegeneinander an, sondern trafen sich auch zum Essen und festigten so ihre Beziehungen, was wiederum zur Weiterentwicklung der Wettkämpfe beitrug. Die Association des clubs nautiques du lac Léman, in der sich die Rudervereine aus der Region zusammengeschlossen hatten, pflegte diesen freundschaftlichen Sportgeist schon länger.
1906 war die Zeiterscheinung auch in Morges angekommen. Die Stadt am Genfersee liess über den Verein Amis de la navigation, Vorgänger des Club nautique de Morges, Regatten austragen und landete damit einen phänomenalen Erfolg. Ein Jahr später wurde ihre Initiative, sechs Rennserien an einem Tag zu starten, von den Seglern vom Schweizer Ufer des Genfersees mit heller Begeisterung aufgenommen.

Die Croisière Eynard, Vorläuferin der Bol d’Or

Auch Léopold Eynard war die Euphorie für den Segelsport rund um den Genfersee nicht entgangen. Immer auf der Suche nach neuen Herausforderungen nutzte er die Gunst der Stunde und stellte 1916 einen neuartigen Wettkampf auf die Beine: eine Etappenregatta rund um den See. Die Idee war für die damalige Zeit revolutionär. Niemand hatte sich vor ihm die Finger verbrennen wollen, zu viele Risiken waren mit einer so langen Regatta verbunden. Doch Eynard liess sich nicht beeindrucken – und er sollte Recht behalten: Die Regatta wurde ein voller Erfolg. Sie war eine willkommene Ablenkung in der düsteren Zeit, in der die Kriegswirren in Europa und die Wirtschaftskrise die Stimmung trübten. Im gleichen Jahr taten sich Segler von Morges nach dem Vorbild des Genfer Société Nautique zu einem echten Segelclub zusammen. 1917 wurde in Vevey ein nautischer Verein aus der Taufe gehoben, 1919 folgte Lausanne und 1921 entstand im benachbarten Frankreich die Société Nautique du Léman Français.
Die 1922 nach ihrem Gründer benannte Croisière Eynard entwickelte sich rapide. Schon bald gesellten sich Boote von allen Ufern des Genfersees dazu: 30er Schärenkreuzer, Hoccos, Lacustres, 6er, 6,50er und 8,50er. Das Publikum fand sich immer zahlreicher ein und zeigte auch deshalb immer mehr Interesse, weil einige Bootsklassen olympisch wurden.
Neben den wohlhabenden Skippern, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts in den Clubs regattierten, nahmen weniger vermögende, aber mindestens ebenso passionierte Segler ihr Schicksal selber in die Hand und gründeten 1917 die Société d’encouragement à la navigation de plaisance. Um ein Zeichen zu setzen, veranstaltete der Verein eine Regatta im Genfer Seebecken. Beflügelt durch den Achtungserfolg doppelte er 1918 mit zwei Regattatagen – einen in Genf, den anderen in Creux-de-Genthod –, einer Regatta in Bellerive und einer interkantonalen Wettfahrt unter Mithilfe des Club nautique morgien und der zwei Jahre zuvor gegründeten Société nautique de Rolle nach.
Die Société d’encouragement à la navigation de plaisance zählte 1920 bereits 170 Mitglieder und 132 Segelboote, für die sie ein ambitioniertes Programm aus fünf jährlichen Regatten, einer Frauenregatta und einer interkantonalen Regatta, zu der alle Clubs des oberen Seebeckens eingeladen waren, zusammenstellte. Aus ihr ging später nicht nur der Yacht Club de Genève hervor, sie war auch die Vorläuferin der späteren Association des Clubs de Voile Lémaniques (ACVL), die 1948 innerhalb der Société Nautique de Genève als Conseil des Clubs de Voile du Léman gegründet wurde.

Das Regattafieber greift um sich

Alle Regatten aufzählen zu wollen, die während fast 150 Jahren auf dem Genfersee ausgetragen wurden, ist aus Platzgründen schlicht nicht möglich. Einige, oft nach ihrem Mäzen benannte Wettfahrten waren kurzlebig und gerieten entsprechend schnell in Vergessenheit, so zum Beispiel die Coupe de Plongeon, die 1910 in Port Noir von einem gewissen Herrn Morsier gestiftet wurde, oder die alle im Sommer 1918 vor dem Quai des Bergues ausgesegelten Coupes Robert Marchand, Zani, Gallay und Lagier. Andere dauerten zwar nicht viel länger, blieben aber in Erinnerung, allen voran die Fête navale 1894 in Nyon, an der die Boote anhand ihrer Vermessung in fünf Klassen eingeteilt wurden.
1912 wurden die ersten Regattawochen organisiert. In Genf gewannen die Herren Pictet de Rochemont auf Calypso bei den Dreitonnern, Hentsch auf Fly bei den Zweitonnern, Perrot auf Quo-Vadis in der Klasse der 6,5er, Guy de Pourtalès auf seinem Kreuzer L’Epervier sowie Chenevière und Bates auf dem Kreuzer Gigolo.
Der Cercle de la voile wurde zur treibenden Kraft auf dem Genfersee, was wesentlich seinen Präsidenten Auguste Bordier, Charles-Constant Hentsch, Jean Mirabaud, Maurice Pictet de Rochemont, Eugène Corte und Charles Bine zu verdanken war. Als angesehene Yachtsmen scheuten sie keine Mühen, um den Segelsport voranzubringen. In den 1920er-Jahren wurden Regatten zu wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen, zu denen sich alles einfand, was Rang und Namen hatte. Der Genfer Club unterhielt enge Beziehungen nicht nur zu allen Wassersportvereinen, die sich rund um den See gebildet hatten, sondern auch zum Zürcher Yacht-Club und den französischen Vereinen am Mittelmeer. Als 1920 nach Kriegsende die internationalen Beziehungen zwischen Frankreich und der Schweiz auch im Segelsport wieder aufgenommen wurden, meldeten sich zwei Schweizer für die Regatten in Cannes und Nizza an: der Zürcher Blum mit der Agon III und der Genfer Grisel mit der Mahoun II. Beide 8,5er waren von Joseph Guedon konstruiert und in Corsier gebaut worden. Im selben Jahr bestand der Regattakalender aus neunzehn Wettkampftagen. Sie umfassten einen Törn im Regattaformat zwischen Genf und Evian, die internationalen Regatten von Evian, die Régate de Coudrée am 1. August, die Segelwoche von Creux-de-Genthod vom 2. bis 8. August und die interkantonale Regatta. Hinzu kamen der Prix Léopold Eynard vom 17. bis 23. August, mehrere lokale Regatten in Morges Ende August und die Frauenregatta am 28. August. Ein dichtes Programm, das damals von der gesamten Flotte des Cercle de la voile absolviert wurde. Und die bestand aus knapp sechzig Racern! Der Genfer Club stellte zwei Fünftonner, einen Viertonner, vier Dreitonner, drei Kreuzer, zwei 7er, vier 12er, neun 8,50er, dreiundzwanzig 6,5er, drei 5er und sechs Jollen.

Die Anfänge der Bol d’Or

Mit der zunehmenden Verbreitung des Segelsports wuchs auch das Bedürfnis nach einer Dachorganisation. 1939 wurde daher in Thun die Union Suisse du Yachting gegründet. Im gleichen Jahr feierte die Bol d’Or auf dem Genfersee ihre Premiere. Initianten dieser einzigartigen Regatta waren sechs Segler des Club nautique des Faces Pâles, angeführt vom Genfer Arzt Pierre Bonnet, dem damaligen Präsidenten des Yacht Club de Genève. Sie griffen die Idee einer Regatta auf, die vierzig Jahre zuvor stattgefunden hatte: Am 20. August 1900 hatten mehrere Boote in Versoix abgelegt und Kurs auf Le Bouveret im Wallis genommen. Da sie nicht nachts segeln wollten, machten sie bei Einbruch der Dunkelheit am Seeende Halt und setzten ihre Fahrt erst am nächsten Morgen fort. Gesiegt hat schliesslich J.W. Bennett auf Sarina.
In der Überzeugung, dass eine so lange Regatta wie die von 1900 mit ein wenig Vorbereitung machbar sein müsste, organisierten Pierre Bonnet und seine Freunde 1937 ein Testrennen, das von Genf über Nyon und Yvoire wieder nach Genf führte. Im Jahr darauf lancierte sie mit den 12 heures du Léman ein noch anspruchsvolleres Format. 1939 schraubten sie ihre Ambitionen erneut in die Höhe. Zusammen mit zwanzig weiteren Teilnehmern sollte es diesmal nonstopp von Genf nach Le Bouveret und zurück gehen. Kaum jemand ahnte damals, dass diesem Segelmarathon eine solche Langlebigkeit beschieden sein würde.
Während mehr als achtzig Jahren blieb der 125 Kilometer lange Kurs unverändert. Einzige Ausnahme war der Zweite Weltkrieg, als die Schweizer Boote die Grenze nicht überqueren durften. Ab 1949 wurde die Bol d’Or von der Société Nautique de Genève organisiert. Sie lockte immer mehr Topsegler aus der ganzen Welt nach Genf. Innerhalb weniger Jahre etablierte sich das Langstreckenrennen nicht nur als Klassiker von internationalem Rang, sondern auch als wichtiger Prüfstand, auf dem Schiffskonstrukteure und Ingenieure ihre für den internationalen Segelsport entwickelten Neuheiten testen konnten. Spätestens seit 1970, als mit dem 1912 gebauten 75er Schärenkreuzer Margot II zum letzten Mal eine «klassische» Segeljacht die Langstreckenregatta gewinnen konnte, gilt sie als ultimatives Testfeld für Innovationen. Ab 1971 war der Rüstungswettlauf nicht mehr aufzuhalten. In diesem Jahr begann die Siegesserie der Toucan, die bis zum Ende des Jahrzehnt ungeschlagen blieben.
In den 1980er-Jahren wurden die Toucans von den Mehrrumpfbooten abgelöst. Die meisten stammten von Schweizer Bootsbauern, die auf die Unterstützung von Forschungsinstituten wie der EPFL zählen konnten und deren Erfindungen in Prototypen umsetzten. Davon profitierte nicht nur der nationale Segelsport, sondern auch die Offshore-Szene. Das wohl berühmteste Beispiel ist Alinghi. Ernesto Bertarellis Syndikat nutzte die Dynamik aus der jahrhundertealten Tradition der Genfersee-Regatten hervorgegangenen industriellen Forschung und Entwicklung im Bootsbau, um 2003 und 2007 den prestigeträchtigen America’s Cup in die Société Nautique de Genève zu holen.
Die Bol d’Or ist zum Barometer für die heute rund 200 Regatten auf dem Genfersee geworden. Sie alle richten ihren Kalender nach diesem Klassiker aus. Dazu gehören auch die 1958 lancierte Challenge Rippstein, die 1976 erstmals durchgeführte Coupe de la Harpe, die Régate des Vieux Bateaux und die Translémanique en solitaire, an denen Boote jeden Alters teilnehmen. Sie sind ein lebendiges Zeugnis der jahrhundertealten Tradition und aus der Genferseelandschaft nicht mehr wegzudenken.

Dans la meme categorie