Expedition
Der Smutje des Expeditionsteams nimmt uns auf dem 30 Meter langen Forschungsschiff aus Aluminium mit auf eine Reise durch mystischen Nebel, spektakuläre Eislandschaften und andere grönländische Zauberwelten.
ÄNDERT BEI JEDEM FORSCHUNGSPROJEKT. ©Julien Girardot
Im Jahr 2022 kaufte der Schweizer Verein Forel-Heritage dem Brasilianer Amir Klink den Schoner Paratii 2 ab. Eine Crew wurde nach Brasilien geschickt, um das Boot in seinen neuen Heimathafen Lorient zu überführen. Ich ging für die letzte Etappe von Lissabon nach Brest an Bord. Vor ihrer ersten Mission in Grönland wurde die 30-Meter-Fahrtenjacht in Zusammenarbeit mit den Seglern und Wissenschaftlern in anderthalbjähriger Werftarbeit in ein Forschungsschiff umgerüstet und kurz vor Expeditionsstart auf den Namen Forel getauft. François-Alphonse Forel (1841–1912) war der Begründer der Limnologie, der Wissenschaft der Binnengewässer als Ökosystem. Ich stosse im Mai 2024 zum Team, als die Arbeiten so gut wie abgeschlossen sind. Drei Wochen lang fülle ich die Laderäume und richte die renovierte Küche ein. Am 8. Juni legen wir in Lorient ab und nehmen Kurs Nordwest. Bis zum ersten, eigentlich ungeplanten Zwischenstopp in Grönland vergehen zwölf Tage. Wir brauchen mehrere Anläufe, bis wir bei schwierigen Eisverhältnissen in Paamiut an der Südwestküste von Kalaallit Nunaat anlegen. Am 25. Juni erreichen wir endlich Narsaq, unsere Basis während der GreenFjord-Mission. Wir haben Glück, dass wir es bis hierher geschafft haben. Die Natur hat uns wiederholt daran erinnert, dass sie hier das Sagen hat.
JÄHRIGER WERFTARBEIT AUF DIE GRÖNLAND-MISSION IM
SOMMER 2024 VORBEREITET.©Julien Girardot
Über den Atlantik
In den Strassen von Brest ist an diesem Markttag viel los. Auf der Terrasse eines Bistros lassen die einen die Nacht ausklingen, während ein Fischhändler lautstark seinen Fang anpreist: «Frischer Steinbutt!» schreit er in die Menge. Auf der Suche nach einem besonderen Leckerbissen schlendere ich durch die Stände und bleibe vor einer Auslage mit Krustentieren stehen.
Zwei riesige Taschenkrebse stechen mir ins Auge. 10 Kilo! Die nehme ich! Das muss reichen, um die Crew, mit der ich gestern in Lorient an Bord gegangen bin, satt zu bekommen. Voll bepackt gehe ich zu Fuss durch die kleinen Gassen zur Marina du Château. Die Luft ist frisch, aber die Sonne verleiht diesem Sommermorgen etwas Unbeschwertes. Mit ihren beiden roten Masten überragt die Forel alle anderen Boote. Sie liegt am Steg und wird gerade betankt. Zwei Stunden schon läuft die Dieselpumpe. Heute Abend wollen wir ablegen und Grönland ansteuern.
DEFINITIV DEM NEUEN BESITZER ÜBERGEBEN. ©Julien Girardot
Wir sind zu siebt an Bord. Yohann, der Kapitän, Brieuc, der Erste Offizier, Erwan, der Chefmechaniker, und die beiden Matrosen Nicolas und Nitya. Yvan ist ein auf Ozeanografie spezialisierter Techniker. Er wird während der Atlantikfahrt die in der Werft installierten Instrumente überprüfen. Sie müssen bis zur Ankunft der Wissenschaftler einwandfrei funktionieren.
Ich stehe derweil am Herd und hinter der Kamera. Der erste Streckenteil ist windstill. Erwan testet bei dieser Gelegenheit die beiden neuen Cummins-Motoren (je 410 PS). Traditionsgemäss wird die erste Fahrt nach den Werftarbeiten genutzt, um die einzelnen Elemente auf ihre Funktionstüchtigkeit zu überprüfen. Besser, etwas geht jetzt kaputt als später. Der Bordalltag vergeht mit Flauten, Alarmen und Reparaturen. Zum Glück ist die Werkstatt gut ausgestattet, die Gedanken fokussiert und für jedes Problem gibt es eine Lösung. Wir passieren Südirland. Bei Sonnenaufgang werden wir von Papageientauchern begrüsst. Aus den Hitzeschwaden schälen sich die Umrisse von Inseln, doch die sommerliche Ruhe ist trügerisch. Yohann warnt uns: In den nächsten Tagen ist Rock ‘n roll angesagt. Tatsächlich frischt der Wind rasch auf und legt in der Nacht weiter zu. Am frühen Morgen ist der Salon wie leergefegt. Die hohen Wellen bringen meinen Kaffee gefährlich zum Schwappen. Jeder Handgriff, jeder Schritt ist ein Kraftakt. Es war noch nie so schwer, Schubladen zu öffnen. Nicolas, der mit Brieuc Wache schiebt, muss wegen eines kleinen Steuerproblems an Deck und bekommt die widrigen Bedingungen mit voller Wucht zu spüren.
Durchfahrt verboten
Der Wind lässt auch in der folgenden Nacht nicht nach und ein Problem mit dem Vorstag zwingt uns, die Segel zu bergen. Sie bleiben auch am nächsten Tag unten: Die Flaute ist zurück. Nach zehn Tagen auf See nähern wir uns dem sagenumwobenen Kap Farvel. Vom südlichsten Punkt Grönlands aus ist nichts zu sehen, dichter Nebel hat sich über die Region gelegt und die Luft temperatur ist bereits um 10° C gesunken. Yohann blickt von seinem Computer auf: Unmöglich, unter diesen Bedingungen nach Narsaq zu gelangen, meint er. Die Satellitenbilder kündigen einen heftigen Sturm an. An der Ostküste, rund 100 Seemeilen weiter nördlich, zeigt die Navigationssoftware einen Zufluchtsort an. Das 1350-Seelen-Dorf Paamiut scheint unsere Rettung zu sein. Nichts wie hin! 24 Stunden später lichtet sich der Nebel endlich und wir durchqueren unser erstes Eisfeld. Für die meisten von uns ist dieser grandiose Anblick eine Premiere. Sicher vertäut an der Mole von Paamiut warten wir über eine Woche, bis wir einen ersten Versuch nach Narsaq wagen. Yohann wird am Steuer der Forel von Baptiste Regnier abgelöst. Er ist gerade aus Frankreich gekommen und eiserfahren. Schnell verlassen wir Paamiut. Baptiste versucht das Eis, das uns den Weg versperrt, über einen Nebenfjord zu umschiffen. Der Weg scheint frei zu sein, ist aber länger und birgt ein nicht zu unterschätzendes Risiko: Wenn alle Ausfahrten zufrieren, sitzen wir fest. Wir wagen es trotzdem.
Mystische Wache
Die Nachtwache mit Baptiste werde ich so schnell nicht vergessen. In den dunkelsten Stunden leuchtet die vermeintliche Nacht tiefblau. Nach Sicht, Fernglas und Instinkt navigierend behalten wir die Umgebung zu zweit im Blick. Wir sind in ständiger Alarmbereitschaft. Ab und zu schrammt ein Eisblock mit einem schrillen metallischen Geräusch am Rumpf entlang und durchbricht das monotone Brummen des Motors. «Wie kann ein so kleines Stück Eis so viel Lärm machen?» Immer wieder gehe ich in die Küche und schenke heissen Kaffee nach. Es ist windstill, aber unsere Nasen sind allein schon vom Fahrtwind eiskalt. Nachts ist es besonders schwierig, den Weg durch das Labyrinth zu finden. «Was hältst du davon, wenn wir aufs offene Meer hinausfahren, um den vielen Eisschollen aus dem Weg zu gehen?», schlage ich vor. «Okay, ich fahre näher ran», antwortet Baptiste. Ein paar hundert Meter weiter entpuppt sich die Passage als Eisteppich. Mist! Angestrengt versuchen wir, die Erscheinungen zu entziffern. Im Nebel verbergen sich Eisblöcke, die Küste ist in Wirklichkeit ein Dunststreifen, der Fels ein Eisblock und das Packeis der Himmel. Die Natur führt uns an der Nase herum, aber das ist ihr gutes Recht. Schliesslich haben wir Glück: Hinten an der Küste tut sich eine Öffnung auf. Im feuchtkalten Halbdunkel gleicht die Forel einem Raumschiff, das sich durch ein Asteroidenfeld kämpft. Die suggestiven Formen der Eisberge, an denen wir in Zeitlupe vorbeifahren, wirken fast so, als wollten sie uns etwas mitteilen. Sie bilden ein endloses Museum voller lebendiger Werke, die für immer erstarrt sind, und strahlen etwas Mystisches aus. Unsere Gedanken schweifen ab. Wir müssen sie wieder sammeln und wachsam bleiben, denn unsere Kameraden in den warmen Kojen vertrauen uns. Vier Stunden Wache, ich bin fix und fertig. Brieuc und Nico lösen uns ab. Als ich einige Stunden später aufwache, durchqueren wir gerade einen eisfreien Fjord. Die Sonne steht hoch und der Himmel ist strahlend blau. Was für ein Kontrast zur Nachtwache! Wir ankern in einer umwerfend schönen Bucht. An den Ufern grasen wilde Moschusochsen, ansonsten sind wir allein. Baptistes Aufzeichnungen zeigen eine sichere Passage nach Narsaq, wir müssen uns aber noch zwei Tage gedulden. Wir vertreiben uns die Zeit mit Wandern, Muschelsammeln und Nichtstun. Momente für die Ewigkeit, die wir dem Eis verdanken.
Narsaq und GreenFjord
Nach einem weiteren Tag auf dem Wasser erreichen wir Narsaq, vier Tage später als geplant. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Das erste wissenschaftliche Projekt, für das die Forel gebucht wurde, ist GreenFjord. Dessen Ziel ist es herauszufinden, inwiefern sich Fjorde, die von einem ins Meer kalbenden Gletscher gespeist werden, von jenen unterscheiden, bei denen der Gletscher an Land endet. Ein vierjähriges multidisziplinäres Forschungsprogramm soll zeigen, wie sich der Klimawandel auf die komplexen und in sich geschlossenen Ökosysteme der südgrönländischen Fjorde auswirkt. GreenFjord umfasst sechs wissenschaftliche Disziplinen. An Land untersuchen zwei unabhängige Teams die Gletscher. Sie biwakieren wochenlang, um Daten zu sammeln und über ihre Beobachtungen zu berichten. Ein weiteres, sozialwissenschaftliches Team geht in Dörfer, Schulen und zu Politikern, um sie für die Probleme und mögliche Massnahmen zu sensibilisieren. GreenFjord legt grossen Wert darauf, die Bevölkerung in das Projekt einzubeziehen. Die sieben Forschenden an Bord rollen Kabel aus, schliessen Instrumente aller Art an und starten ein Gerät nach dem anderen. Unter Deck geht es zu und her wie in einem Ameisenhaufen. In den nächsten zehn Tagen werden zwölf Personen auf dem Boot sein, für mehr ist kein Platz. Die Nächte werden kurz sein, das Programm straff. Der hintere Teil der Forel wird für Forschungszwecke genutzt. Er ist für ein Boot dieser Grösse erstaunlich geräumig und für Expeditionen in so abgelegene Regionen sehr praktisch. Der vom früheren Eigner als Lagerraum genutzte Bereich wurde in der Werft vom Forel-Team und den Konstrukteuren Olivier Petit und Gianluca Guelfi geschickt ausgebaut. Sie haben ihn mit einem Feucht-, einem Trocken- und einem sterilen Labor sowie mit zahlreichen Instrumenten eingerichtet. Wenn man den Arbeitsalltag von Forschenden teilt, verändert sich die eigene Wahrnehmung und man versteht plötzlich Dinge, an die man zuvor keinen Gedanken verschwendet hätte. Manchmal verwandeln wissenschaftliche Analysen esoterische Gedanken in etwas Fassbares. Aber ist das Schöne an der Wissenschaft nicht auch, dass selbst sie an ihre Grenzen stösst? Dass sie an einem Punkt angelangt, an dem es nicht weitergeht und das Geheimnis gewahrt wird?
REN DIE EINFAHRT ZU DEN FJORDEN. ©Julien Girardot
Grönlands Zukunft
Als sich die wissenschaftliche Mission dem Ende zuneigt, komme ich mit Sam ins Gespräch. Er zeigt mir eine Karte von GreenFjord: «Schau, das ist der andere Fjord, der Igaliku. Er ist ganz anders als Sermilik, weil sich der Gletscher hinter die Schnittstelle zwischen Fjord und Küste zurückgezogen hat und das Schmelzwasser über einen Fluss in den Fjord fliesst. Er profitiert nicht mehr vom Upwelling. In solchen Fjorden gibt es kaum noch Fischgründe. Für die Fischer hier ist das eine Tragödie. Die Wirtschaft Grönlands ist auf die Fischerei angewiesen, sie macht 90 Prozent der Exporte aus. So wie der Sermilik-Fjord war früher ganz Grönland. Was gerade in Igaliku geschieht, wird zur Regel werden. Das Phänomen wird sich immer mehr ausbreiten und Fische und Eisberge werden allmählich verschwinden.» Durch die Erderwärmung entsteht eine neue Vegetation, die auch Chancen bietet. Schafzucht und Gemüseanbau haben bereits Einzug gehalten. Die vom Internet inspirierte Jugend entwickelt neue wirtschaftliche Aktivitäten. Die Kreuzfahrtschiffe, die von einigen als Bedrohung gesehen werden, sind für andere ein Glücksfall. Die Region erlebt gerade einen rasanten ökologischen und sozialen Wandel. «In Grönland leben weniger als 60 000 Menschen. Sie haben zehn bis zwanzig Jahre Zeit, vielleicht sogar weniger, um Antworten auf existenzielle Fragen zu finden wie etwa ihre Unabhängigkeit, den Bergbau oder den Druck der Grossmächte. Wie bei Donald Trump, der lauthals verkündet hat, das Gebiet annektieren zu wollen, weckt Grönland bei vielen Begehrlichkeiten, will aber selbst über seine Zukunft entscheiden – vor allem, weil es seit 1721 unter dänischer Herrschaft steht.
Die perfekte Kombination
Zurück in Narsaq sehen wir durch die Bullaugen, wie die Sanaa anlegt. In der Kombüse bereite ich das letzte Abendessen für das Team vor. Heute Abend feiern wir das Ende der Mission. Während sich Julia einen Chai zubereitet, kommen wir ins Gespräch. Sie sei zufrieden mit der Mission. «Die zehn Tage haben mich überzeugt», sagt sie. Auch das Boot sei optimal. «Es kommt dorthin, wo andere, ebenso gut ausgerüstete, aber grössere Schiffe keine Chance hätten. Das ist in dieser anspruchsvollen Umgebung sehr praktisch. Es gibt immer einen Plan B und das gefällt mir. Die Konstruktion des Schiffes und seine Philosophie, aber auch die der Projektbeteiligten sind top. Man spürt, dass alles möglich ist. Die Kombination ist perfekt.» Morgen gehen die Wissenschaftler an Land und ich kehre zurück nach Frankreich. Die Mission ist beendet. Was ich seit Lorient erlebt habe, ist an Intensität nicht zu überbieten. Ich verlasse Grönland mit unglaublichen Bildern im Kopf, die Magie des Eises und die Energie des Forel-Teams wirken nach. Ich bin dankbar für dieses Abenteuer, aber auch aufgeregt, wieder in meine Heimat zurückzukehren. In Frankreich ist es Sommer – richtig Sommer.
DER NACHTWACHE ZWISCHEN PAAMIUT UND NARSAQ. ©Julien Girardot
Segeln «on the rocks»
Bei einer Polarexpedition gibt das Eis den Takt vor. Das Packeis, das sich im Winter am Nordpol bildet, bricht auf. Es reisst viele Schollen mit sich, die südwärts treiben. Hinzu kommen riesige Blöcke, die sich von den Gletschern in den Fjorden lösen. In dieser Jahreszeit liegt die Eisdichte auf einer zehnstufigen Skala bei neun. Trotz des vielen Eises sind die Einfahrten in die südlichen Fjorde, wo die Dörfer liegen, selten länger als eine Woche zugefroren.
Die Forel-Forschungsplattform plant eine zweite Expedition von Mai bis September 2025. Sie umfasst:
– drei Kampagnen: eine in Kanada (Mündung des Sankt-Lorenz-Stroms / Saguenay-Fjord) und die anderen beiden in Grönland (NW und SW);
– zehn Principal Investigators (PI) und sieben Forschungsprogramme.
Internet: https://www.forel-heritage.org/en/
ZWISCHENSTOPP IN GRÖNLAND WIRD DAS SCHIFF VON
KINDERN GESTÜRMT. ©Julien Girardot
DIE WASSER IN VERSCHIEDENEN TIEFEN SAMMELN. ©Julien Girardot