Madagaskar
In Madagaskar lebt eine alte bretonische Schiffbautechnik bis heute fort. Die nach überliefertem Handwerk gebauten Schoner sind ein Symbol für Wissensaustausch und maritimes Erbe.
In Belo-sur-Mer weht ein bretonischer Wind. Der Volksstamm der Vezo führt in diesem madegassischen Dorf eine alte nordfranzösische Handwerkstradition fort: Noch heute bauen die Vertreter der «Meeresnomaden», wie die Vezo übersetzt heissen, Frachtschiffe nach einer über 150-jährigen Methode. Werfen wir einen Blick zurück auf die Anfänge. In der Mitte des 19. Jahrhunderts wandte sich König Radama II. mit der Bitte an Frankreich, seinem Volk den Schiffbau beizubringen. Er wollte damit den Seeverkehr ankurbeln und den arabischen und europäischen Schiffen Konkurrenz machen. Die Schiffbauerfamilie Joachim folgte dem Aufruf und reiste nach Madagaskar, um die Einheimischen in die Kunst des Schiffbaus einzuweihen. Die Joachims stammten ursprünglich aus der Bretagne, lebten aber auf La Réunion. Als sie 1863 auf der grossen Insel landeten, war König Radama II. gerade ermordet worden. Sei- ne Frau trat als Ranavalona II. seine Nachfolge an. Im Gegensatz zu ihrem verstorbenen Mann verfolgte sie eine fremdenfeindliche Politik und veranlasste eine regelrechte Hexenjagd auf Ausländer. Für Familie Joachim begannen vierzig Jahre Versteckspielen und Exil. Erst 1904 erhielt Albert Joachim die Erlaubnis, in Belo-sur-Mer eine Schule für Schiffbauer zu eröffnen. Das von ihm und seinem Bruder Ludovik vermittelte Handwerk wurde von Generation zu Generation weitergegeben und wird noch heute nach alter Tradition ausgeübt.
Die Schoner an der Westküste Madagaskars sind unterschiedlich gross. Die kleinsten haben eine Kapazität von 12 Tonnen, die grössten können bis zu 40 Tonnen Waren befördern. Für die Herstellung eines Schoners benötigt ein Bootsbauer, oft mit Unterstützung eines Sohnes, etwa ein Jahr. Nicht selten verzögern sich die Arbeiten allerdings, da es an Geld fehlt. Der Bau eines Schoners kostet zwischen 20 und 40 Millionen Ariary (ca. 4000 bis 8000 Euro), was für madegassische Verhältnisse eine gigantische Summe darstellt. Auf der afrikanischen Insel beträgt der monatliche Mindestlohn nur 200 000 Ariary (40 Euro), steht also in keinem Verhältnis zum Preis eines Bootes. Wer den Betrag aufbringt und das Schiff regelmässig wartet, kann hoffen, es zwanzig bis dreissig Jahre in gutem Zustand zu behalten und damit seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Meistens wird das Boot für den Eigengebrauch gebaut.
Auf Madegassisch heissen die Schoner «Botry». Diese Bezeichnung wird auch für die Dhaus verwendet, obwohl die beiden Schiffstypen in wesentlichen Punkten voneinander abweichen. Schoner sind Zweimaster mit Gaffeltakelung, während Dhaus mit einem Mast und einem dreieckigen Segel beriggt sind. Auch ihr Ursprung unterscheidet sich. Dhaus wurden von arabischen Völkern auf die Insel gebracht, Schoner hingegen von den Europäern und – mit der Familie Joachim – aus Frankreich. Schliesslich haben die beiden unterschiedliche Hecks. Bei den meisten Dhaus ist es flach, beim Schoner ähnlich wie der Bug spitz. Beide Schiffstypen sind aufgrund ihrer kiellosen, flachen Form bei den Madegassen sehr beliebt, da sie dank des geringen Tiefgangs seichte Lagunen besegeln und am Strand anlanden können.
Noch heute gehören Schoner zu den wichtigsten Transportmitteln entlang der madagassischen Küste. Sie verkehren das ganze Jahr, im Gegensatz zu Landfahrzeugen, für die es während der Regenzeit auf den Strassen oft kein Durchkommen gibt. Steigende Benzinpreise und die logistische Herausforderung, abgelegene Regionen mit Treibstoff zu versorgen, machen das Segeln nicht nur billiger, sondern auch sicherer.
DIE SALZPRODUKTION SCHAFFT WICHTIGE ARBEITSPLÄTZE AUF DER INSEL. ©Malo Thierry
MIT ALTEN UND NEUEN
WERKZEUGEN GEARBEITET. ©Malo Thierry
Belo-sur-Mer handelt vor allem mit Salz aus den Salinen, die nur wenige Kilometer vom Hafen von Menaky entfernt liegen. Ausserdem werden Edelhölzer aus dem Wald von Kirindy Mitea und von den Vezo verkaufter Fisch exportiert. Im Gegenzug importiert das Dorf Dinge, die es nicht selbst produzieren kann, wie Gemüse, Reis und andere Grundnahrungsmittel, und hält so den vor Ort unerlässlichen Handelskreislauf am Leben.
In den letzten zwanzig Jahren hat die steigende Nachfrage dazu geführt, dass immer mehr Werften entstanden sind. Leider bringt dieses explosionsartige Wachstum auch Probleme mit sich. Der Bootsbau verschlingt Unmengen an Holz. Für die Herstellung eines Schoners werden Hunderte von Baumstämmen benötigt, die oft aus dem geschützten Wald von Kirindy Mitea stammen. Da die Bäume zu langsam nachwachsen und das Holz immer knapper wird, nimmt die illegale Abholzung zu. Dieser Raubbau beeinträchtigt nicht nur die Holzversorgung für den Bau der Schoner, sondern bedroht auch das empfindliche Ökosystem der Region und letztlich das altüberlieferte maritime Handwerk.