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Bali: vom Traum zur Wirklichkeit

von Quentin Mayerat

1975 liess sich der kalifornische Surfer Tim Watts auf der Insel nieder. Es gebe weder Telefon, noch Fernsehen, noch Strom und nur eine einzige Ampel, erzählte er damals. Daneben hatte die Insel jedoch so viele Schätze zu bieten, dass ihr Name bald um die ganze Welt ging. Ulu Watu, Padang Padang, Impossible, Bingin und Dreamland hiessen die aussergewöhnlichen Wellen, fast ausschliesslich Lefthands, die sich vor einer traumhaften Kulisse mit paradiesischen Stränden an einem vorgelagerten Korallenriff brachen. Ein Mythos war geboren, er hat seine Anziehungskraft bis heute nicht verloren. Die Wellen sind jedoch bei weitem nicht das einzige Geschenk, das die Insel bereithält. Mindestens ebenso faszinierend sind die atemberaubenden Landschaften, das tiefblaue, von den Sunda-Inseln gesäumte Meer, die unzähligen Tempel, die weitläufigen, terrassenförmig angelegten Reisfelder, die malerischen Fischerdörfer im Norden und die reiche Unterwasserwelt. In dreissig Jahren haben sich Dinge gezwungenermassen verändert. Eine Frage aber bleibt: Ist Bali noch immer eine Reise wert?

Grossstadtdschungel

Kuta, 21. Jahrhundert im August. Der Jumbo nähert sich dem Flughafen. Durch das Fenster sehen wir die weissen Linien, die von den Wellen um die nahegelegenen Riffs gezeichnet werden. Kuta ist nicht mehr das kleine, abgelegene Dorf, von dem uns die ersten Reisenden vorgeschwärmt haben. Heute erstreckt sich die Stadt über mehrere Kilometer, Tausende Geschäfte und Restaurants wurden aus dem Boden gestampft. In ohrenbetäubendem Getöse knattern unzählige Skooter in einem einzigen bunten, unendlichen Strom durch die Strassen – Tag und Nacht. Abends, wenn die Dunkelheit von den Neonlichtern vertrieben wird, herrscht in den Gassen reges Treiben. Restaurants und Nachtlokale empfangen die Touristenschwärme. Trotz der Hektik und der bunt zusammengewürfelten Leute kommt es zu keinen Spannungen. Balinesen sind friedliche, ruhige, stets freundliche Leute. Sie schätzen die Touristen, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie mit ihnen gute Geschäfte machen können. Am Rand dieser wuchernden Stadt zieht sich, fast surrealistisch, ein riesiger, von Kokospalmen gesäumter Strand dem Meer entlang. Die vom Wasser umspülte Sandzunge wird von Händlern aller Art, Vermietern von Surfbrettern, Masseurinnen und Fussballspielern in Beschlag genommen. Verglichen mit der Qualität der Wellen im Süden der Insel ist der Beach Break hier nichts Besonderes; für Anfänger, besonders für Kinder, ist er jedoch ideal, um gefahrlos die ersten Erfahrungen zu sammeln. Kuta ist zur Grossstadt verkommen. Die alten Strassen haben vier grossen Verkehrsadern Platz gemacht. Wäre eine andere Entwicklung möglich gewesen? Bestimmt. Sie hätte weniger anarchistisch ablaufen können. Trotzdem muss man Kuta besichtigen, in sein Gewimmel eintauchen und die Stadt so akzeptieren, wie sie ist, ein Grossstadtdschungel eben. Zu lange sollte man aber nicht verweilen.

Legendäre Wellen

Unsere nächste Station ist die Halbinsel Bukit. Die Natur gewinnt wieder überhand und Bali erschliesst sich uns in seiner ganzen Schönheit. Zwischen Klippen und üppiger Vegetation nimmt die Ostküste die rollenden Wellen wie ein Geschenk auf. Auf dem Felsen oberhalb Dreamland erhält man eine gute Übersicht über die vielen Spots und wird sich der unglaublichen Kraft des Ozeans bewusst. Rechts hinter der Landzunge liegt der Spot Balangan, links reihen sich Pidgin, Impossible und Padang Padang aneinander. Wir verbringen den ersten Tag am Prachtstrand von Dreamland. Hier herrscht sogar bei ruhigem Wetter eine starke Strömung, kein Vergleich mit dem Beach Break von Kuta. Kraftvoll bäumen sich die Wellen in der rauen Brandung auf. Weit hinten, am Ende der Landzunge, bricht sich die legendäre Ulu Watu, die Welle, die jeder Surfer zumindest auf einem Bild schon einmal bewundert hat. Am nächsten Tag schauen wir uns den Mythos aus der Nähe an. Die Umgebung ist atemberaubend. Ulu rollt auf eine Klippe zu, vor der sich Fischerboote einen Weg durch das aufgewühlte Wasser pflügen. Zum Spot gelangt man über eine Felsentreppe. Einige Shops, Bars und kleine Restaurants scheinen über dem Abgrund zu schweben. Von hier oben erweckt die Welle den Eindruck, als sei sie fast normal und ohne grosse Schwierigkeiten zu bändigen. Doch der Schein trügt. Auf gleicher Höhe mit dem Monster wird uns jäh bewusst, mit welcher unbändigen Wucht die Welle ihren Jahrtausende alten Mechanismus vor unseren Augen abspielt. Am gleichen Abend noch fahren wir weiter nach Jimbaran. Der Strand ist für seine lange Abfolge von Restaurants berühmt. Hier kann man sich jeden Abend im Kerzenschein frische, vor den Augen der Gäste gegrillte Fische und Langusten schmecken lassen.

Im Herzen Balis

Wir sind in erster Linie wegen der Wellen hierher gekommen, wollten aber gleichzeitig auch die Insel, ihre Kultur und ihre Werte kennen lernen. Balinesen sind sehr gläubig und spirituell veranlagt. Sie verehren Brahma, Shiva und Vishnu, die gleichen Götter wie die indischen Hindus. Dies ist mit ein Grund, weshalb Bali bei den Rucksacktouristen und Musikern in den Siebzigern so beliebt war. In jedem Dorf gibt es mindestens einen Tempel und mehrere Beetsäle. Überall verstreut erblickt man Opfergaben, sogar mitten auf der Strasse! Wir besuchen Ubud, das kulturelle Zentrum der Insel. Obwohl der Tourismus auch hier Einzug gehalten hat, ist der Zauber der Kleinstadt erhalten geblieben. In Reisfelder eingebettete Hotels, ein von Hunderten kleiner Affen bewohnter Wald, kleine Buchläden, Kunstgalerien und ruhige Viertel, in denen man nach Einbruch der Nacht gemütlich ein einheimisches Bier – das Bintang – geniessen kann, machen Ubud zu etwas ganz Besonderem. Als wir das Dorf verlassen, um uns die Reisfelder aus der Nähe anzuschauen, spricht uns ein Mann an und schlägt uns vor, uns das Ganze von innen zu zeigen. Zwei Stunden lang tauchen wir in diese eigene Welt ein. Kleine Erdmauern begrenzen die Becken. Sie werden täglich gereinigt und dienen gleichzeitig der Bewässerung. Vorsichtig setzen wir auf den schmalen Mauern einen Fuss vor den anderen. Die restliche Insel ist vor unseren Augen verschwunden. Am Horizont spiegelt sich das leuchtende Grün der Reispflanzen im Wasser. Es herrscht eine unglaubliche, intensive Stille. Die Bilder brennen sich in unsere Köpfe.

Fischerbarken

Nachdem wir einige Tage mit der Erkundung von Ubud zugebracht haben, fahren wir weiter in Richtung Norden. Man hat uns von einem Dorf an der Nordküste berichtet, an der noch immer nach jahrhundertealter Tradition gefischt wird. Es heisst, dass der doch ziemlich weit von Kuta entfernte Norden nicht von den australischen Touristenströmen überschwemmt wird und deshalb seinen ursprünglichen Charme weitgehend wahren konnte. Nach einer mehrstündigen Autofahrt durch eine gebirgige, von Kulturen und Reisfeldern geprägte Landschaft erreichen wir Amed. Obwohl dieser Küstenstreifen für seinen Korallenreichtum, seine faszinierende Unterwasserwelt und einige sehenswerte Wracks bekannt ist, stellen wir vor Ort fest, dass es in den typischen Dörfern nur einige wenige Hotels gibt. In jeder – oder zumindest fast jeder Bucht hat sich ein kleines Dorf eingenistet, an dessen Sandstrand einige Dutzend Fischerboote liegen. Bei den rund fünf Meter langen Auslegerbooten handelt es sich um so genannte Jukung oder Prahu. Sie werden von Hand aus Baumstämmen gezimmert und mit zwei Auslegerarmen ausgestattet, die aufgrund der insektenähnlichen Form des Gefährts “Flügel” genannt werden. Keine einzige Schraube hält die Konstruktion zusammen, alles ist mit Seilen befestigt. Ein billiges Dreieckssegel treibt das Boot beim kleinsten Windhauch nach vorne. Es ist auf sehr dünnen Bambusröhren getakelt, die die Windstösse abfedern und die Energie weiterleiten. Erstaunt müssen wir uns eingestehen, dass diese einfachen Boote auch ohne Karbonrümpfe und profilierte Segel einen stabilen Kurs fahren, sogar bei Schwachwind ein ausreichendes Tempo erreichen und auch heftigen Windstössen problemlos standhalten. Vor der Lombokstrasse fegt der Wind manchmal mit dreissig Knoten über das Meer und die Kabbelung kann bis zu einem Meter hoch sein. Wir können uns selbst davon überzeugen, denn ein Fischer lädt uns spontan ein ihn zu begleiten. Jede Nacht fahren die Fischer gemeinsam aufs Meer hinaus und kehren im Morgengrauen geschlossen wieder zurück. Ein unvergesslicher Anblick! Die Meeresenge ist gefährlich und nur einige Boote sind mit einem kleinen Motor ausgestattet, der im Notfall die Rettung bedeuten kann. In den folgenden Tagen absolvieren wir mehrere Tauchgänge zu den Riffen und den Schiffswracks vor der Küste. An unserem letzten Sonntag begleiten wir die Fischer zu einem Hahnenkampf in ein kleines, verlassenes Nest. Im Schatten eines riesigen Baumes bekämpfen sich zwei mit metallenen Spornen bewaffnete Hähne auf einer kleinen, staubigen Arena. Es wird geschrieen und gejubelt, Geldscheine werden ausgetauscht, Blut spritzt und das Bier erhitzt oder beruhigt die Gemüter. Am nächsten Tag geht das Leben wieder seinen geregelten Gang. Mitten in der Nacht fahren die Fischer wie gewohnt auf die Meerenge zwischen Bali und Lombok hinaus, so, wie das schon ihre Väter und Grossväter getan haben und wie das auch ihre Söhne tun werden… wenn sich die Welt bis dann nicht allzu sehr verändert hat.

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