Skippers

🏛 » Die Atolle geizen nicht mit Reizen

Die Atolle geizen nicht mit Reizen

von Quentin Mayerat

Die Hand am Ruder und den Blick auf den Horizont gerichtet steuert Kapitän Hussein das Boot durch das spiegelglatte Meer. In der Ferne verrät eine Gruppe Kokospalmen die Präsenz einer Insel. „Am Schwierigsten ist das Segeln in den Malediven bei ruhiger See. Dann sieht man die Riffe nicht. Erst letzte Woche ist wieder ein Tauchboot in der Nähe des Malé-Atolls auf Grund gelaufen“, erzählt Hussein. Sein Schiff, die Haryana – ein grosses, 20 m langes und für Törns hergerichtetes Dhoni – ist erst seit zwei Jahren mit einem GPS ausgestattet, doch oft wird das Navi nicht benutzt. Dazu kennt Hussein sein Revier zu gut. Er stammt aus dem Lhaviyani-Atoll nördlich von Malé und hat auf dem Fischerboot seines Vaters gelernt, die Tücken des Meeres zu entziffern. Später heuerte er als Matrose auf einem Kreuzfahrtschiff an. Vor 20 Jahren wurde ihm erstmals das Kommando eines Boots anvertraut. Seither segelt der Kapitän kreuz und quer durch den Archipel. 20 Jahre hat er damit zugebracht, das tiefblaue Meer zu beobachten, dem Rhythmus der gegen den Rumpf schlagenden Wellen zu lauschen oder die Schaumkronen zu beobachten, um die Richtung der Strömungen zu erkennen. Die arabischen Seefahrer umschifften die Inselgruppe wohlweislich nördlich oder südlich, um die heftigen und unberechenbaren Strömungen zu umgehen. Mit einem breiten Lächeln, das seine perfekten, strahlend weissen Zähne zum Vorschein bringt, rühmt sich Hussein, die ganze Karte der Malediven mit allen Inseln, Klippen, Untiefen und anderen gefährlichen Passagen im Kopf zu haben. Das ist bestimmt nicht gelogen und er hat auch allen Grund stolz zu sein, denn im Atlas besteht die Region aus einer riesigen türkisfarbenen Fläche, die mit unzähligen winzigen Inseln mit den unmöglichsten, von uns kaum aussprechbaren Namen nur so übersät ist.

Vom Klimawandel bedroht
Ein seltsames Land, diese Malediven. 1190 winzige, auf 27 Atolle verteile Inseln reihen sich auf einer Fläche von 820×120 km aneinander. Nur lächerliche 1 Prozent der insgesamt 90’000 km2 ragen aus dem Meer, obwohl ragen sicherlich das falsche Wort ist. Die höchste Erhebung liegt nämlich gerade einmal 2,50 m über der Meeresoberfläche. Wie Seerosen scheinen die Inseln auf der glatten Haut des Ozeans zu schwimmen. Leider treiben sie im Gegensatz zu Seerosen aber nicht auf dem Wasser. Seit einiger Zeit werden die Malediven wegen des klimabedingten Meeresspiegelanstiegs regelmässig von Flutwellen überrollt. Wellen und Stürme nagen beständig an den Küsten, brechen über Deiche, überschwemmen Strassen, zerstören Häuser und verseuchen die geringen Süsswasserreserven. Nach dem Tsunami von 2004 mussten zwanzig der 200 bewohnten Inseln evakuiert werden. Der Staat tut, was er kann, um die natürlichen Schutzwälle wie die Korallenriffe oder Mangrovenwälder wieder in-stand zu setzen. Die Arbeiten gehen aber nicht schnell genug voran und die Klimaprognosen geben nicht gerade zu Hoffnung Anlass. Manche rechnen damit, dass die Inseln schon 2030 unbewohnbar sein werden. Ein Teil der Einnahmen aus dem Fremdenverkehr wird deshalb auch in einen staatlichen Fonds investiert. Mit dem Geld soll später neues Land im Ausland gekauft werden, damit die Bevölkerung eine neue Heimat erhält. Im Salon der Haryana ist der Anstieg des Meeresspiegels bei den Crewmitgliedern ein viel diskutiertes Streitthema. Während der Kapitän wie viele andere vermögende Landsleute ein Stück Land in Indien oder Sri Lanka kaufen will, weigern sich die Matrosen die Möglichkeit einer solchen Katastrophe überhaupt in Erwägung zu ziehen. „Ich vertraue Gott. Und wenn die Inseln untergehen sollten, dann gehe ich mit unter!“ sagt Ahmed und streicht dabei seine rabenschwarz glänzenden Haare glatt. Sorgen macht er sich nur um seine drei Kinder. Er hofft, dass sie einen guten Job finden. In den Malediven, wo die Landessprache Dhiveli nur den Indikativ Präsens kennt, bleibt die Zukunft eben ein diffuses und sehr fernes Konzept.

Herumschwirrende Fischschwärme
Die zehn Taucher, die gemütlich in den Liegestühlen vorne auf dem Boot liegen, haben andere Sorgen: Werden sie beim Tauchgang an diesem Nachmittag Haie vor die Linse bekommen? Am Morgen hatten sie ihre Reisemüdigkeit beim Wracktauchen weggespült. Die Kuda Giri wurde 1998 von den örtlichen Tauchclubs auf sandigen Grund versenkt und ist bereits mit einer dicken Schicht aus Korallen und Schwämmen überzogen, die auf die bunten, hektisch herumschwirrenden Fischschwärme des Indischen Ozeans wie ein Magnet wirken. Ein hübscher Vorgeschmack, der bei den Tauchern Appetit auf mehr geweckt hat. Jetzt warten sie gespannt auf die Anweisungen des Divemasters Sébastien. Er besitzt nicht nur die typische gebleichte Mähne eines Tauchlehrers, sondern auch viel Erfahrung in den maledivischen Tauchgründen und eine umfassende Kenntnis ihrer Bewohner. Mit der Ruhe eines Generals beginnt er das Briefing und weist dabei auf die Besonderheiten des bevorstehenden Tauchgangs hin: „Guraidhoo Corner ist ein schmaler Durchgang. Wie in allen engen Passagen ist die Strömung sehr stark und dürfte uns aus entgegengesetzter Richtung begegnen. Das Eintauchen ist deshalb besonders wichtig. Ihr müsst auf mein Zeichen ins Wasser springen und sofort abtauchen, damit ihr nicht mitgerissen werdet. Wir werden uns in 30 m Tiefe auf dem Grund niederlassen und auf Haie warten. Nach zwanzig Minuten gebe ich euch ein Zeichen, damit ihr das Seil loslasst und mit der Strömung wieder auftaucht.“ Ganz kribbelig vor Vorfreude steigen die Taucher einer nach dem anderen in das Diving Dhoni.

Reissende Strömungen
Am Tauchspot angekommen lässt sich Sébastien mit dem Schnorchel im Mund in das turbulente Oberflächenwasser fallen, um sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen: Die Passage befindet sich direkt unter uns, die Strömung fliesst in die richtige Richtung und auch wenn sie etwas stark scheint, ist sie doch tauchbar. Alles ok! Auf Kommando lassen sich die Teilnehmer ins Wasser fallen, steigen stufenweise in die blaue Tiefe hinab und achten darauf, dass sie die rosafarbenen Flossen des Divemaster nicht aus den Augen verlieren. Jetzt auf keinen Fall das Seil loslassen! Wie ein in Neopren gewickelter Moses führt Sébastien sein kleines Tauchervolk zum Beobachtungsposten am Eingang der Passage. Wer diese Stelle verpasst, verpatzt den ganzen Tauchgang. Glücklicherweise haben es diesmal alle geschafft. Sie legen sich fl ach auf den Boden, mit dem Gesicht dem tiefblauen Meer zugewandt. Ganze Wolken aus Luftblasen schiessen ihnen im 45°-Winkel entgegen. Man hält sich so gut fest, wie es geht. Und jetzt? Nichts als das die Augen strapazierende, kräftige Blau. Und dann plötzlich ein metallenes Klirren, etwa so wie die drei rituellen Schläge bei Beginn eines Theaterstücks. Jemand hat an seine Pressluftflasche geklopft, um uns auf etwas aufmerksam zu machen. Die Pause ist vorbei, Vorhang auf für die faszinierende Unterwasserwelt! Zwei Silberspitzenhaie „betreten“ die Bühne. Mit der Konzentration von Trüffelschweinen schwimmen sie knapp über dem Meeresgrund. Bald gesellen sich vier weitere Haie hinzu, völlig unbeeindruckt von der reissenden Strömung. Ein muskulöser, mindestens 2,50 m langer grauer Riffhai schiesst wie ein Deus ex machina aus einem verborgenen Winkel. Der kräftige Brocken hat sich ganz offensichtlich die Hauptrolle vorbehalten. Ein Schwarm Adlerrochen übernimmt die Statistenrolle und beendet die Vorführung mit ein paar anmutigen Flügelschlägen. Das Parterre ist von Gefühlen überwältigt. Langsam wird es Zeit ans Auftauchen zu denken und sich von der Strömung hochziehen zu lassen. Die macht ihre Aufgabe aber mehr schlecht als recht. Wie Strohhalme werden die Taucher mitgerissen und sind plötzlich in einem unsichtbaren Aufzug gefangen, der sie ohne Vorwarnung 10 m nach unten reisst, bevor sie wieder nach oben geschleudert werden. Die Computer drohen zu überhitzen und die Taucher versuchen Ruhe zu bewahren und ihre strapazierten Trommelfelle irgendwie zu schützen. Es geht zu wie in einer Waschmaschine im Schleudergang.

Zurück an Bord lösen sich die Zungen. Die Kameras werden aus den wasserdichten Hüllen geholt und fördern dank des Wunders der Digitaltechnologie die eindrücklichen Bilder des unvergesslichen Erlebnisses zu Tage, während unsere Haare noch nicht einmal trocken sind. Die Tauchhefte werden ausgefüllt und mit Hilfe von Fachbüchern der Name des kleinen gelben Fisches mit den blauen Augen oder dieser seltsamen, im der Falte einer Anemone entdeckten kleinen Krabbe bestimmt. Bevor sich die Taucher auf dem baldachingeschützten Deck ausruhen, machen sie sich über die Spezialitäten des srilankischen Kochs her. So gestärkt geht es mit neuer Kraft an die Landausflüge wie zum Beispiel nach Dhangethi in der Nähe des Ari-Atolls. In den sandigen Gassen zwischen rosafarbenen Häusern spielen die Einheimischen in kleinen Gruppen Karten und paffen dabei eine Zigarette nach der anderen. Der dabei eingeatmete Teer würde ausreichen, einen ganzen Weg zu asphaltieren. Am Strand haben sich die Frauen zu einem Schwatz getroffen, während die Mädchen in Prinzessinnenkleidern wie aus Tausendundeiner Nacht um sie herumschwirren. Die Sonne verschwindet langsam am Horizont und verbreitet gedämpftes Abendlicht, die Wolken fangen Feuer und der Gesang des Muezzin verhallt in den abendlichen Schatten. Morgen wollen sich die Taucher auf die Suche nach einem Walhai machen. Der grösste Fisch der Welt hält sich bei Flut am äussersten Rand des Atolls auf. Übermorgen stehen dann Mantarochen auf dem Programm, die sich vor der riesigen Sandzunge Don Kalo von kleinen, ebenso geschickten wie hungrigen Lippfi schen von Parasiten befreien lassen. Ein Terminkalender wie der eines Ministers! Wer hat da etwas von Ferien gesagt?

Dans la meme categorie