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Neue alte Leidenschaft

von Quentin Mayerat

Wegbereiter und Segelcracks haben in der Romandie Tradition

Das Yachtsegeln auf dem Mittelmeer und der Seine hat den örtlichen Wortschatz stark beeinflusst. Gewisse technische Ausdrücke sind nur am Mittelmeer und am Genfersee anzutreffen. Die Société Nautique de Genève (SNG) wurde 1872 gegründet. Sie geht auf die Gesellschaft „Le Noble Exercice de la Navigation et de l’Arquebuse“ und auf verschiedene Trainingsclubs zurück und galt lange Zeit als nationaler Massstab für Regattavorschriften und Vermessungsregeln. 1880 wurde die Société Nautique Rolloise (SNR) aus der Taufe gehoben, mehrere Segelvereinigungen auf dem Genfersee und dem Neuenburgersee folgten. Fortan wurden regelmässig Regatten veranstaltet. Der mit den Wettfahrten verbundene Sportgeist und das  Wettdenken trieben die technischen Verbesserungen schnell voran. Einige Vermessungsvorschriften verschwanden, andere haben, wenn auch etwas verändert, bis heute überlebt und sind zum Teil weltberühmt (Godinet, 10-15-20m2 du Léman, 20m2 Encouragement, 6mR, 6.50m, 5m, 5.5mR, 15m2 O, Lacustre, 15m2 SNS…). Sie haben die Entwicklung des Freizeitsegelns in der Westschweiz stets stark beeinflusst. Berühmtestes Beispiel für diese erfolgreiche Tradition ist zweifellos Alinghi. Ohne die Vorläufer, welche die Geschichte der R-Klasse und der anderen Vermessungsregeln mitgeschrieben haben, wäre der Schweizer Defender nicht da, wo er heute ist. Eines der ersten Genfersee-Regattaboote wurde 1890 von Baron J. de Catus in Genf1 gezeichnet und gebaut. Die örtlichen Werften begannen sich für die Projekte von Privatpersonen zu interessieren.

Es ging nicht mehr darum, mit einer Barke zum Angeln zu fahren, sondern sich mit eleganten, rassigen und leistungsstarken Segelbooten auf dem Wasser zu amüsieren und zu diesem Zweck typische regionale Klassen einzuführen (Moucheron, 3Tx, 20m2 Encouragement, 5m, 6.50m, 15m2 SNS, 6mR, Lacustre, Toucan…). Zur damaligen Zeit entstanden mehrere Werften (Celle, Corsier-Port, Béchard, Durr, Staempfli, Amiguet usw.), einige davon sind noch immer in Betrieb. Sie geben ihr wertvolles Know-how Generation für Generation weiter und stellen so den Erhalt des nautischen Kulturerbes sicher. In den Sechzigern verschwanden mit dem Aufkommen von Polyester die Rudersegelboote, die Arbeitswerkzeuge unserer Fischer, beinahe vollkommen von der Bildfläche. Wenn diese pflegeleichten klassischen oder klinkerartig gebauten Boote mit ihren einfachen Riggs nicht so viel Charme besessen hätten, wäre ihr Schicksal besiegelt gewesen. So wurden sie jedoch viele Jahre später (1980-82) wieder aus der Versenkung geholt. Viele Exemplare tauchten in Scheunen, Speichern, Hallen und in verwilderten Gärten wieder auf. Auch die Arbeitsbarken erlebten eine zweite Blüte und segeln heute wieder auf dem Genfersee. Sie wurden entweder renoviert (Neptune) oder komplett neu gebaut (Vaudoise, Savoie, Cochère). Dank der Anstrengungen der Liebhaber alter Rümpfe und Kenner stilvoller Holzverarbeitung kann die Genferseeregion eine klassische Flotte ihr eigen nennen, auf die sie stolz sein darf. Vervollständigt werden die Oldies mit Gaffelkuttern und –Ketsches, deren Pläne oder Rümpfe aus Salzwasserrevieren stammen, die mit den Genferseebarken jedoch den Traditionsgeist teilen (Charlotte, Le Magnifique, Céphée, La Licorne, Oro, L’Indécis, Big Brother, usw.). Der Romandie wurde da ein vielfältiges, entwicklungsfähiges und lebendiges seglerisches Kulturgut vererbt. Gestärkt durch einfallsreiche Bootsdesigner (H. Copponex, A. Amiguet, usw.), erstklassige Werften mit Sinn für wertvolle Holzkonstruktionen und Olympiasieger und Weltmeister (L. Noverraz, J.-C. Vuthier, C. Bigar,
P. Durr usw.) hat die Romandie entscheidend zur heutigen Aura des Segelsports beigetragen.

Segelfreuden und Wahrung des nautischen Kulturguts

Das wohl sichtbarste und bekannteste Segelerbe des Genfersees sind eindeutig die Lateinerbarken. Sie wurden dank eines neuen Bewusstseins für die Berufsstände des Genfersees gerettet und restauriert. Indem sie sich bei speziellen Anlässen gegenseitig herausfordern oder uns an schönen Tagen einige traumhafte Stunden an Bord ermöglichen2, führen sie das Andenken der Vorfahren unserer modernen Regattasegler fort. Auf dem Genfer- und dem Neuenburgersee ziehen wunderschöne klassische Yachten ihre Bahnen, deren Eigner nicht unbedingt vermögend sind. Entgegen der landläufigen Meinung ist Segeln – auch auf klassischen Booten – nicht den oberen Zehntausend vorbehalten. Man sollte nicht vergessen, dass auch Segelruderboote ihren Charme haben. Es gibt keinen Grund, sie zu verachten, auch wenn das Segeln auf diesen kleinen, einfachen Einheiten zuweilen als „Anti-Yachting“ oder „Segeln der Armen“ belächelt wird. Die Demokratisierung des Segelsports und die technischen Fortschritte haben zu breit gefächerten Interessen geführt, so dass Segelfans heute in allen sozioprofessionellen Schichten anzutreffen sind. Liebhaber von Holzkonstruktionen mit edlen Formen finden ihr Glück in den verschiedenen Essenzen, Regattabegeisterte und Freunde sanfter Formen segeln ruhiger, aber mit genauso viel Wetteifer und Sportgeist wie ihre modernen Gleichgesinnten.
Freizeitsegler, die alte Konstruktionen zutiefst bewundern, träumen auf dem Wasser von einer vergangenen Zeit. Alle haben sie etwas gemeinsam: den Spass am Segeln und die Freude an hochwertiger, nachhaltiger Arbeit. Was die Genferseeregion besonders auszeichnet, ist die unerschütterliche Leidenschaft, die mit den Oldtimern verknüpft ist, eine Leidenschaft, die oft auf Grund eines Zufalls oder einer Begegnung ihren Anfang findet und sich sowohl auf anmutige Prestige-Klassen (z.B. die R-Klassen) als auch auf sympathische, herzige kleine Boote mit Baujahr 1920 (Bricole Amure) bezieht. Und das Angebot ist gross! Es reicht von kleinen Jollen (klassische Moth, Snipe, Vaurien) und Yachten (Moucheron) bis hin zur Pierre-de-Lune, eine der wichtigsten Einheiten der Genfersee-Klassikerszene. Den Crewmitgliedern an Bord der klassischen Segelyachten der grossen Klassen (die 8mR Elsinore mit Baujahr 1930 oder die Glana mit Baujahr 1946; die 3Tx Calypso mit Baujahr 1911 oder die Kopie der Phoebus II3 aus dem Jahr 1903), der ehemaligen Hochseeracer (Maïca mit Bauhahr 1964) oder der historischen Segelboote (die als 6mR getakelte 7mR Endrick aus dem Jahr 1912 nach Plänen von W. Fife; die 5.5mR Ballerina IV, Olympiasiegerin 1960 mit H. Copponex am Steuer; die Mitouzi von R. Bettens, zweitbeste Schweizer Yacht der Einhand-Weltumsegelung usw.) macht es sichtlich Spass, den besten Trimm zu finden, der ihrem Schiff zu noch besseren Leistungen verhilft und sich dank formvollendet ausgeführter Manöver Respekt und Bewunderung zu verschaffen. Begeisterung für echte körperlicher Anstrengung (es gibt noch immer Boote ohne Winschen!) und Sinn für Ästhetik schwingen an Bord einer Yacht aus ferner Vergangenheit stets mit. Das nautische Kulturgut darf nicht an Land vor sich hinvegetieren, es gehört aufs Wasser und soll an Paraden oder an Regatten segeln. Es muss zeigen können, wie viel Dynamik in ihm steckt, damit die Generationen die verschiedenen technischen Entwicklungen am „lebenden Objekt“ sehen und verstehen lernen. Seit 1979 können die klassischen Yachten auf die wertvolle Mithilfe des Musée du Léman und seiner Konservatorin Carinne Bertola zählen. Sie bemüht sich, einige kleine und grosse Einheiten zu retten und den Museumsbesuchern das Know-how, die Manöver, die sportlichen Schicksale, die Schiffarchitekten und die Schiffbauer näher zu bringen. Die begrenzte Ausstellungsfläche hindert sie leider daran, sämtliche Objekte und Boote zu zeigen. Ideal wäre eine Museumsantenne am Seeufer, damit die ehrwürdigen schwimmenden Zeugen der Zeit ihr natürliches Element wiederfinden. Leidenschaft und die Übermittlung des handwerklichen Könnens der Werften an die Lehrlinge, die meist auf Grund ihrer Liebe zum Holz und ihrer Segelkenntnisse wegen ausgesucht werden, sind der Schlüssel für eine erfolgreiche Zukunft. Im Auftragsbuch der auf Holzkonstruktionen spezialisierten Werften der Romandie stehen einige schöne Restaurierungsprojekte (15m2 SNS, Holzboote, das hundertjährige Motorboot Gilliatt3), Lacustre, 8mR, 6mR, Requin, Espadon, 6.50m SI, Moucheron, usw.). Einige von ihnen bieten den Vereinigungen zur Rettung alter Segelboote ihre technische Hilfe und Beratung an: Durr für die Helena 1913, Sartorio für die Neptune, Burkhalter für die Sainte-Anne (er unterstützt auch das Comeback der 15m2 SNS, indem er drei neue Einheiten baut) und Mayerat, der erst kürzlich ein grosses Rettungsboot konstruiert hat. Leider können hier nicht alle Akteure aufgeführt werden. Mit ihren Kenntnissen tragen sie jedoch alle dazu bei, dass die alten Yachten fachgerecht repariert, restauriert und gepflegt werden.

Von Gaffeln, Focks, Bugspriets und Bramsegeln

Klassische Yachten kommen auf unseren Binnenseen nicht nur bei Regatten und Paraden zum Einsatz. Auf den meisten Oldies ist das Leben an Bord vom geselligen Beieinandersitzen bei einem guten Essen, von improvisierten Begegnungen, langsamen, aber sportlichen Ausfahrten, akrobatischen Sprüngen ins Wasser (wobei der Bugspriet als Sprungbrett genutzt wird), herzlichen Empfängen, sorgfältigen Lack- und Malerarbeiten, Fachsimpeleien und dem so besonderen Segelwortschatz (Toppsegel, Bugspriet, Gaffel, Steilgaffel, Schlag, Klinkerbauweise, Langkieler, Fock, Bramsegel, Ballon, usw.), von Träumen einer anderen Zeit und gar nicht so weit zurückliegenden maritimen Abenteuern geprägt. Und wenn einem die nötigen Segelkenntnisse oder der richtige Wortschatz fehlen, besteht immer noch die Möglichkeit, bei einer Crew anzuheuern. Bei der heutigen Lebensweise ist es nicht immer ganz einfach, eine vollständige Crew zusammenzubringen. Die Eigner oder Skipper klassischer Yachten sind des Öfteren froh um zusätzliche Hände sympathischer, lebenslustiger Zeitgenossen. Eine negative Antwort ist nicht unbedingt ein endgültiges Nein; an einem anderen Tag oder auf einem anderen Schiff ergibt sich vielleicht bald eine neue Chance… Klassenvereinigungen, bestimmte Segelclubs und jährliche Veranstaltungen bieten Interessierten immer wieder Gelegenheit, die alten Yachten aus der Nähe zu bewundern. Mit Ausnahme einiger spezifischer Klassen (8mR, 6mR, usw.) können die klassischen Segelboote kaum gegeneinander regattieren, viel zu gross sind die Unterschiede zwischen den einzelnen Konstruktionen. Dennoch erfreut sich die Romandie einer belebten klassischen Segelsaison. Konkurrenzdenken und Aufrüstungswettkampf, die seit den Anfängen der Freizeitseglerei fest zur Regattaszene gehören, sind den Traditionsregatten fremd. Wer hier mitmischt, tut das aus Spass am Segeln und aus Freude, mit dabei zu sein. Nirgendwo sonst wird rückwärts gestartet, wenn Äolus Müdigkeitserscheinungen zeigt, oder ein eigener Kurs gesegelt, wenn allzu lang an der Startlinie festklebt wurde! 2004 wurden auf dem Genfersee die seriöseren Läufe der 8mR-WM ausgetragen, 2005 die der Lacustre-Schweizermeisterschaft. Die Klasse der 6.50m SI feiert 2005-2006 ihren
100. Geburtstag und plant einige Sonderanlässe. Im Jahr 2007 werden die 15m2 SNS ihr 75. Jubiläum begehen, während die R-Klasse in Schottland ihr 100-jähriges Bestehen mit nautischen Leckerbissen feiern wird. Auch in Rolle steht ein Jubiläum an und zwar das der seit 25 Jahren alle zwei Jahre ausgetragenen Fête des Canots. Weitere Klassiker-Highlights auf dem Genfersee: die Régate annuelle des Vieux Bateaux in La Tour-de-Peilz (30-jähriges Jubiläum im Jahr 2005), die Classique de Sciez (Vorsicht vor dem Piraten am Hafeneingang. Nur wer freundlich und gut gelaunt ist, kommt an ihm vorbei), die Jungveranstaltung Léman Voiles Classiques (2006 in Yvoire) und Les Mâts en Bois in Villeneuve. Auf dem Neuenburgersee treffen sich die Oldies zur Parade des Vieux Bateaux (Grandson) und zur Régate des Vieux Bateaux (Chevroux). Jazz, gute Laune und Feststimmung sind wie immer mit von der Partie. Einige geschichtsträchtige Yachten warten noch auf Sponsoren, die sich bereit erklären, sie zu neuem Leben zu erwecken. Einfache, klinkerartig gebaute Rümpfe oder Boote mit eleganten Überhängen, Einheiten mit Marconi-, Gaffel oder Steilgaffel-Takelungen, alle bieten sie Jahr für Jahr eine lebendige Show, die unsere Fantasie immer neu beflügelt. Einige unternehmen Abstecher aufs Meer, kehren aber immer wieder in ihre Heimat auf die Süsswasserseen zurück. Das klassische oder historische Segeln lässt das technische Know-how und die Liebe für hochwertige, generationenüberdauernde Arbeit weiterleben und lüftet nach und nach die Geheimnisse eines nautischen, uns allen zugänglichen Erbes.

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