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Die Schatzinseln

von Quentin Mayerat

15 Stunden mit dem Segelboot liegen zwischen der Longvilliers-Marina in Saint-Martin und der Round Rock Passage, dem östlichen Eingangstor der British Virgin Islands (BVI). 15 Stunden, in denen sich die Wachen mit einer Kaffeetasse in der Hand abwechseln und den Segeln lauschen, die unter dem Sternenhimmel mit dem Wind Zwiesprache halten. Nach einer gemütlichen Überquerung bei Rückenwind unter Grosssegel und Genua beendet die Ananda II, eine für Segel- und Tauchtrips ausgerüstete Dufour 44, ihre Reise vor einer Anhäufung grosser, nackter und wie Rüstungen gewölbter Felsen, die ihre Steinpanzer an der sanften Morgensonne wärmen. „The Baths“ im äussersten Süden von Virgin Gorda schmücken sich ungeniert mit einem Hauch karibischer Seychellen. Zwischen den Granitblöcken, die aussehen, als hätte sie ein Titan hierher geworfen, haben sich verlockende, natürliche Privatpools gebildet, deren Farbe ständig zwischen Türkisblau und Smaragdgrün schwankt und die einladen, zu verweilen und die übrige Welt zu vergessen. Ein idealer Ort, um sich von den Strapazen einer schlaflosen Nacht zu erholen.

Von Pfeilen durchbohrte Jungfrauen

Ankerplatz in The Baths, Virgin Gorda. Die Granitfelsen vulkanischen Ursprungs bilden natürliche Pools zwischen mit weissem Sand ausgekleideten Höhlen. © Christophe Migeon

Von der Inselgruppe geht eine eigenartig wilde und ungebändigte Schönheit aus, die schon manch einen Seefahrer in ihren Bann gezogen hat. Auf seiner zweiten Reise im Jahr 1493 wurde Christoph Kolumbus, als er mit seinen 17 Schiffen nach Puerto Rico fuhr, um dort eine Kolonie zu gründen, auf sie aufmerksam. Wohl etwas übermüdet von der Reise taufte sie der Admiral des Ozeans in Anlehnung an die Legende der Heiligen Ursula „Jungferninseln“. Die mysteriöse bretonische Prinzessin soll mit ihren 11’000 Dienerinnen von Pfeilen durchbohrt gestorben sein, weil sie sich Attila verweigert hatte. Vielleicht fehlte es Kolumbus an diesem Tag auch einfach an einer zündenden Idee. Doch letztendlich üben sich die üppig grünen und schwach besiedelten Inseln, auf der nur wenige menschliche Konstruktionen stehen, erfolgreich in Enthaltsamkeit und Keuschheit und gehen deshalb auch als ehrwürdige Modelle der Tugend durch. In Spanish Town präsentieren sich die bonbonfarbigen Häuschen in ihrem Sonntagsgewand, akkurat herausgeputzt und gepflegt wie die Bewohner, die sich auf dem Weg zur evangelischen Kirche respektvoll grüssen. Hunderte gelber Schmetterlinge wirbeln durch die Luft und beleben die von schlanken Kakteen bewachsene Landschaft.

Papageien und Rumflaschen

Seespinne auf einer Gorgonie. Tauchen in den Dogs vor Coackroach Island. © Christophe Migeon

Unter der prallen, gleissenden Sonne liegt der Sir Francis Drake Channel friedlich da wie ein Alpensee. Diesem grossflächigen Gewässer, das im Norden von der Insel Tortola und im Süden von einem Kranz Konfettiinseln eingerahmt wird, verdanken die britischen Jungferninseln ihren Ruf als Segelparadies. Sieben von zehn Touristen ziehen hier zwischen November und Mai bei 15 bis 20 Knoten Passatwind aus Nordosten bis Südosten ihre Schläge und kurbeln gut geschützt vor dem tobsüchtigen Atlantik an den Winschen. Vor ihnen haben sich andere Segler mit weniger rechtschaffenen Absichten diese idealen Bedingungen zu Nutze gemacht. Noch immer schwebt aus den Zeiten der Piraten, Bukaniere, Freibeuter und anderer einäugiger und einbeiniger Seeräuber der penetrante Duft von altem Rum und Kanonenpulver über den Inseln. Die englischen, französischen und holländischen Saufbrüder lauerten den spanischen, mit Gold und Silber beladenen Galeonen auf. Kaum hatten sie ihren Raubzug vollendet, zogen sie sich im allgemeinen Durcheinander in eine der unzähligen geheimen Buchten zurück, deren Bewohner sie so ungefragt zu Komplizen machten. Der gefürchtete Blackbeard schätzte die Verschwiegenheit von Beef Island im Osten von Tortola. Die Gefangenen schob er derweil auf das Dead Chest Eiland in der Nähe von Peter Island ab. Die Insel wird im berühmten Lied der Schatzinsel besungen. „Fifteen men on a dead man’s chest, Iyo ho, yoho and a bottle of rum!“ grölt man am besten abends in der Offiziersmesse mit einem Papagei auf der Schulter und ein paar Schlucken 12-jährigem Rum. Eine Kabellänge weiter erhebt sich die von struppiger Vegetation überwucherte Norman Island. Das dichte, krause Dornengebüsch verewigt sich mit unzähligen kleinen Stacheln in den Hosenbeinen. Aufständische sollen hier in der Mitte des
18. Jahrhunderts 55 mit Geld gefüllte Truhen vergraben haben. Eine schöne, vielversprechende Geschichte voller überraschender Wendungen, die auch Stevenson beim Schreiben eines der packendsten Abenteueromane inspiriert hat.

Mit Segeln und Dampf

© Christophe Migeon

Noch ganz durcheinander von der verschwenderischen Fülle goldener Dublonen und silberner Reals erkundet man die Umgebung in der kühnen Hoffnung, eine aufgebrochene Schatztruhe oder einen Schädel mit lauter eingewachsenen Rubinen zu finden. Die einzige Währung aber, die der Taucher aufstöbert, sind die grazilen kleinen Eisschnecken mit ihrem weissen, orange gesprenkelten Mantel. Sie wurden auf den Inseln früher als Tauschgeld verwendet. Seltene Juwelen – allerdings aus Metall – birgt der Archipel aber dennoch. Eines davon ist das Wrack eines mit Dampfkesseln ausgestatteten eisernen Segelschiffs aus dem Jahr 1867. Es liegt erstaunlich gut erhalten in einem Korallenbett nahe der Insel Salt. 146 Jahre ist es her, dass das auf den Namen Rhone getaufte Post- und Passagierschiff auf den nur 24 Meter tiefen Grund sank (siehe Kasten). Seine Überreste sind noch heute beeindruckend. Die mit Schwämmen überkrusteten Davits und das Skelett des von einer dicken Korallenschicht überwachsenen Spantwerks sind Zufluchtsort für geheime Verabredungen der Husarenfische oder flüchtige Picknicks träger Schildkröten. Dichte Schnapperschwärme wachen über die Überreste der Dampfkessel, deren Explosion beim Kentern das Schiff sauber in zwei Teile zerrissen hat. In diesem Land, das einen hohen Lebensstandard geniesst und niemand wirklich fischen muss, um zu überleben, breiten sich die Fische ungeniert aus. Sie fühlen sich eben wie zu Hause.

Stämmige Barrakudas

Vor dem benachbarten Cooper Island liegt ein weiteres Wrack-Nest, das Wreck Alley. Vier kleine Frachter wurden zwischen 1991 und 2009 auf kleinstem Raum versenkt, sehr zur Freude der Fans von altem Eisen. Am emotionalsten aber ist ein Tauchgang zum Wrack der Chikuzen, irgendwo zwischen Tortola und Anegada unter einem fast brutal blauen Meeresspiegel. Das koreanische Kühlschiff war 1981 über 7000 Seemeilen von der Küste entfernt auf ein riesiges Plateau in 25 bis 30 Meter Tiefe gesunken und ist nicht so leicht zu finden. Nach einigen Schlägen, ein Auge auf das GPS, das andere auf das glitzernde Wasser gerichtet, muss man so nahe wie möglich bei den Koordinaten 18°37.129’N / 64°30.969’W ankern und sich mit dem Dinghi auf die Suche machen. Dabei sollte man mit dem Kopf ständig unter Wasser bleiben und darauf achten, dass man die Taucherbrille nicht verliert. Wenn sich der zur Seite geneigte, geheimnisvoll in eine Wolke aus Süsslippen und Stachelmakrelen gehüllte Rumpf dann aber plötzlich schemenhaft abzeichnet, ist die Aufregung gross. Ein riesiger Rochen hält neben dem Anker ein Nickerchen, Weg-Rotbarsche flanieren durch Frachträume und beim Aufstieg sorgt eine Barrakuda-Gang, deren Mitglieder so kräftig sind wie die Oberschenkel eines Rugbyspielers, für ein ganz besonderes Geleit. Wenn man die Wahl hätte, würde man ihnen gerne noch etwas Gesellschaft leisten, statt die 24 bis 25 Stunden dauernde, ermüdende Fahrt am Wind bis nach Saint-Martin anzutreten.

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