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Die Berge im Herzen

von Brice Lechevalier

Stève in vollem Schuss an der Trophée Mer Montagne 2013 in St. Gervais. © zVg

„An Bord einer Mini-Transat eine Welle abzufahren löst die gleichen Gefühle und den gleichen Adrenalinschub aus wie Freeriden im Pulverschnee! Die beiden Sportarten sind zwar sehr verschieden, aber das Wesentliche unterscheidet sich nicht: Du surfst!“, erklärt Stève Ravussin. Mit dieser Parallele lässt sich wohl auch seine enge Bindung zu seinen beiden Leidenschaften erklären – dem Meer, auf dem er seinen Beruf ausübt, und den Bergen, wo er nach Einschätzung von Kennern ganz gross hätte rauskommen können. Hat der Waadtländer Skipper da etwa eine zweite Karriere verpasst?

Ein Kind des Sees

Die Berge waren jedenfalls nicht weit, als er sich das erste Mal im Wassersport versuchte. Als guter Schweizer aus Epalinges oberhalb von Lausanne war er mit dem See vertraut. Mit 12 Jahren wagte er den Sprung ins Wasser. Sein Untersatz: das Windsurfbrett, das damals schnellste Fungerät. „In den 80er-Jahren kam das Windsurfen auf. Emerson Fittipaldi, der brasilianische Formel-1-Weltmeister (Anm.d.R.: 1972 und 1974) wohnte in der Nähe, oberhalb von Morges, und wir sahen ihn oft beim Windsurfen auf dem See. Es war genau das, was ich wollte, übers Wasser flitzen!“ Vom Windsurfen wechselte Stève später zu den Surprise und schliesslich zu den Formel-20-Katamaranen. Dabei hatte er stets ein Ziel vor Augen: Er wollte schnell sein, das interessierte ihn mehr als das Meer. Bestimmt ist das auch der Grund, weshalb er eine Zeitlang in der Schweiz blieb und noch heute gern auf einer Décision 35 oder einem anderen Boot über den See brettert. „Tempo liegt mir. Eine Weltumsegelung ist sicher ein schönes Abenteuer. Man hat mir schon angeboten, an der Vendée Globe teilzunehmen, aber das interessiert mich nicht. Groupama 3 (Anm.d.R.: Jules Verne Trophy 2010) war super, aber ich würde es nicht nochmals machen. Es dauerte zu lange (48 Tage, 7 Stunden und 45 Minuten) und ich hatte bei der kleinsten Flaute das Gefühl, meine Zeit zu vergeuden. Mehrere Stunden auf dem gleichen Kurs zu segeln und zu warten, bis ich mit der Wache an der Reihe bin, ist nichts für mich.“

© Jean-Guy Python

Als ihn Pierre Fehlmann 1992 wegen seiner Seglerqualitäten anheuerte, erweiterte sich sein bisher von den Bergen rund um den Genfersee eingesperrter Horizont. Er folgte dem Ruf des Meeres und setzte damit seinen Ambitionen, das Snowboarden als Hochleistungssport zu betreiben, ein Ende. Eigentlich habe er sich diese Frage nie wirklich gestellt, sagt Ravussin. „Snowboarden ist für mich wie Gleitschirmfliegen, Motocrossen oder Kitesurfen: eine super Freizeitbeschäftigung, aber kein Beruf. Ausserdem war ich früher Asthmatiker, da sind Berge und höhere Lagen nicht ideal.“

Gleitsportarten aus Leidenschaft

Die Maxi Merit öffnete ihm die Augen für das Regattasegeln und eine Mini-Transat begeisterte ihn für die hohe See. Trotzdem spezialisierte sich Stève auf Mehrrümpfer und gewann auf einem umgebauten Formel-40-Katamaran die Route du Rhum in der Klasse 3. Klick gemacht hat es bei ihm aber erst auf der Primagaz, auf die er von Laurent Bourgnon 1997 eingeladen wurde. „Es war genau die Art Boot, die mich interessierte: kraftvoll, schnell und kompromisslos.“

Danach bildete er mit Franck Cammas ein Team. Obwohl die beiden sehr gegensätzlich sind, ergänzten sie sich hervorragend. Stève ist eine spontane, schillernde Persönlichkeit mit beissendem Humor, Franck ist berechnend und extrem methodisch. „Auf einem Mehrrümpfer steht man immer auf Messers Schneide. Man klettert ständig Wellen hoch und wieder runter. Dabei ist man wie ein Strohhalm und der kleinste Fehler rächt sich.“ So geschehen zum Beispiel 2002, als Stève an der Route du Rhum in Führung lag und weniger als 734 Seemeilen vor Pointe-à-Pitre kenterte. „Klar gehen wir Risiken ein, aber was für ein Adrenalinkick! Wenn ich nicht mehr mit Mehrrümpfern segeln kann, gebe ich das Segeln auf.“

Die Ravussin-Brüder auf der MOD70 Race for Water vor der Transat der MOD im Sommer 2012. © zVg

Dann würde er bestimmt wieder andere Gipfel stürmen. Eigentlich sind die Berge in Stèves Leben aber nie sehr weit. Sei es, wenn er seine Lebensgefährtin und erfolgreiche Skicrosserin Emilie Serain begleitet oder sich auf eine Regatta vorbereitet, wie er das vor der Jacques Vabre 2007 tat, als er mit Franck Cammas den Mont-Blanc bestieg. Hochgebirge vor hoher See sozusagen.

Zwei Welten mit gemeinsamen Werten

Dieses Vorgehen liegt Stève am Herzen, denn er weiss, dass See- und Bergleute viel gemeinsam haben. „Bergsportler und Segler üben ihren Sport beide in der Natur aus, doch sie nehmen viel mehr Risiken auf sich als wir. Ihr Umfeld ist weniger vorhersehbar. Wir können das Wetter fünf bis sechs Tage voraussagen. In den Bergen kommt es wegen des Reliefs zu Blockaden, plötzlichen Wetterumschwüngen und der Schnee verändert sich ständig.“ Sicher ist das Steuern eines Mehrrümpfers auf einer durcheinanderlaufenden, rauen See mit kurzen Wellen gefährlich, die Situation ist aber voraussehbar und bei Problemen ist das Boot wie eine Hütte im Hochgebirge. „Ich habe die Erfahrung gemacht, dass man auf einem gekenterten Mehrrümpfer leben kann. Ein Bergsteiger, der einen 8000er ohne künstlichen Sauerstoff besteigt und vom Nebel überrascht wird oder in eine Spalte fällt, befindet sich in einer deutlich weniger komfortablen Situation. Da heisst es ‘friss oder stirb’.“ Segeln auf einer MOD70, dem von Stève lancierten One-Design-Trimaran, ist jedoch auch kein Zuckerschlecken, „wir setzen aber nie unser Leben aufs Spiel wie im Hochgebirge“, betont der Skipper. „Das Ausüben meines Sports auf dem Meer ist eher mit dem Vorgehen eines Slalomfahrers vergleichbar. Beide versuchen wir die Leistung im Hier und Jetzt zu optimieren sowie den Stil und die Linie den Wetterbedingungen anzupassen.“ Beruflich hat Stève Ravussin seine Wahl getroffen, bewegt sich aber auf der Suche nach dem ultimativen Tempogefühl weiter zwischen Meer und Bergen hin und her.

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