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Im Kielwasser der Entdecker

von Quentin Mayerat

Wenn der russische Kapitän des ehemaligen grönländischen Transport- und Versorgungsschiffes Ocean Nova einen monegassischen Zwischenstopp ankündigt, hat er nicht etwa zu tief ins Glas geschaut. Er verwechselt die blau schimmernde Wand am Horizont keineswegs mit der Skyline des Fürstentums. Vielmehr wurde der gigantische Gletscher zum Dank für die Unterstützung der Grimaldis bei den grossen nordischen Expeditionen im 20. Jahrhundert auf den Namen Monaco getauft.

Mit dem Dinghi können wir uns der rund dreis-sig Meter hohen und sechs Meter breiten Front besser nähern. Die Nussschale vor der haushohen Naturerscheinung ruft in Erinnerung, wie verschwindend klein wir Menschen in der Unendlichkeit der Natur doch sind und lässt erahnen, wie diese Kulisse auf die Fantasie der ersten Nordpol-Abenteurer gewirkt haben muss. Spitzbergen oder Svalbard, wie die Inselgruppe auch genannt wird, liegt zwischen 74 und 81 Grad nördlicher Breite und zwischen 10 und 35 Grad östlicher Länge. Am Ende der Welt also.

Das Schiff setzt seine Fahrt den berühmten Magdalenefjorden entlang fort. Dessen gezackte Krone hat Willem Barents, dem die Entdeckung oder zumindest die moderne Wiederentdeckung von Spitzbergen zugesprochen wird, bestimmt bei der Namensgebung im Jahr 1596 beeinflusst. Der holländische Seefahrer ahnte nicht, dass in Geschichtsbüchern der Wikinger aus dem Jahr 1194 bereits von einem vier Segeltage von Island entfernten Land die Rede war. Island selbst trug damals den Namen Kalte Küsten. Im 15. Jahrhundert soll Svalbard gemäss einiger russischer Historiker von pomorischen Jägern besucht worden sein. Die Hypothese konnte bisher aber noch nicht glaubhaft bestätigt werden.

Wale im Visier

Henri Hudson berichtete 1607 von den im Überfluss vorhandenen Walen, die wie Karpfen in einem Fischteich schwämmen. Kein Wunder, wurde ein paar Jahre später international zur Jagd auf die Meeressäuger geblasen. Hauptziel war der Grönlandwal, dem unerbittlich der Garaus gemacht wurde. Englische, holländische, französische, dänische und norwegische Schiffe setzten sich schwer bewaffnet gegen ausländische Besatzungen zur Wehr. Sie schreckten nicht davor zurück, sie zu erpressen und die gegnerischen Schiffe zum Kentern zu bringen. Die Kämpfe führten schon bald zu politischen Problemen. Mehrere Staaten erhoben Anspruch auf die Inselgruppe. Heute steht sie unter norwegischer Souveränität.

Nach den Entdeckern, Walfängern, Trappern und Kundschaftern aus allen möglichen Ländern trieben sich angelockt von der Magnetwirkung Spitzbergens russische und schwedische Wissenschaftler auf dem Archipel herum. In den beiden Weltkriegen und während des Kalten Krieges wurden aber auch aus rein strategischen Beweggründen Stützpunkte eingerichtet. Mit Wissenschaft hatte das wenig zu tun.

Auf die Soldaten folgten Menschen, die ihre eigenen Grenzen ausloten wollten. Früher zeigte sich auf Schlachtfeldern, wer das Zeug zum Helden hatte, heute werden Helden auf gefährlichen Reisen geboren. Der Kampf mit den extremen Bedingungen weckte wie schon bei den Vorgängern der Entdecker, den Inuits, den Teamgeist, der das Überleben in einer so unwirtlichen Region sichert.

Moderne Abenteurer

Heute ist Spitzbergen das Ziel moderner Abenteurer, für die Abgeschiedenheit und Kälte nicht mehr gleichbedeutend mit Belastung, sondern mit Freiheit sind. Die Reiseveranstalter wollen das neugewonnene touristische Interesse selbstverständlich nutzen, ihre Projekte stossen aber von Seiten der Wissenschaftler auf Gegenwehr. Sie können sich nicht mit der Idee anfreunden, dass der noch in den Kinderschuhen steckende Fremdenverkehr ausgebaut werden soll. Betrachtet man den zwischen dem Treibholz schwimmenden Abfall als jämmerlichen Boten der Plastikära, kann man sie verstehen. Bislang sind es die Meeresströmungen, die den Müll ans Ende der Welt spülen. Die verheerenden Konsequenzen von die weissen Wüsten überschwemmenden Menschenmassen kann man sich bildlich vorstellen.

Könige des Packeises

Drei Tage schon ist die Ocean Nova in Spitzbergen unterwegs und weit und breit noch keine Spur von einem Eisbären! Die Ungeduld an Bord steigt. Die Wissenschaftler und Passagiere können die in Dunst gehüllte Umgebung so angestrengt absuchen wie sie wollen, ihre Feldstecher stöbern nur Robben und fliegende Lummen, Eiderenten und Seeschwalben auf.

Marc Hébert, ein kanadischer Naturforscher, ist trotzdem zuversichtlich: „Bei der letzten Bärenzählung in dieser Region der Barentssee wurden über 3’000 Exemplare erfasst. Die Chancen, dass wir einen Eisbären sehen, sind genauso gross wie die, auf einer Safari in Afrika Löwen zu begegnen, vor allem auch deshalb, weil wir uns in der richtigen Jahreszeit befinden.“ Im fahlen Licht der Mitternachtssonne verharren etliche Passagiere an Deck und halten nach den Raubtieren Ausschau. Ihre Ausstattung – Schal, Kappe, mehrere Pullover und eine dicke Winterjacke – spricht Bände: Der nordische Sommer ist bitterkalt!

80,30° nördliche Breite

Die Sonne richtet ihre Strahlen auf das Eiland Charles XXII, als wolle sie uns einladen, den schmalen Streifen des ewigen Eises zu erkunden, der von einem steinernen, mit Guano zugepflasterten Zuckerhut überragt wird.

Unsere Anwesenheit lockt jedoch ein ganzes Regiment Walrosse an. Ihre gewaltigen Stosszähne könnten unserem Schlauchboot schwer zusetzen. Die schnaufenden und grunzenden Riesen aus der Familie der Robben haben bereits mehr als einen Kajak auf dem Gewissen. Für das Gemetzel, auf dessen Höhepunkt 17‘000 Walrosse getötet wurden, ist das eine kleine Revanche. Wir blasen zum Rückzug.

Eine benachbarte Bucht scheint ein ungefährlicherer Anlegepunkt zu sein. Dachten wir zumindest. Plötzlich zeigt Marc auf eine Vertiefung im Felsen und fragt: „Seht ihr die elfenbeinfarbene Masse, direkt unter dem Firn?“

Die grosse Pelzkugel stellt sich als noch abschreckender heraus als die Walrosse. Es handelt sich tatsächlich um einen König des Packeises. Er ist viel zu gefährlich, als dass wir an Land gehen könnten, da würde es auch nichts helfen, wenn wir bewaffnet wären. Gesetzlich ist die Selbstverteidigung das einzige Argument, das das Töten eines der seit 1973 geschützten Eisbären rechtfertigt. Man muss die Umstände aber belegen können und riskiert schwere Strafen. Wir begnügen uns deshalb damit, uns dem steinigen Strand so weit wie möglich lautlos zu nähern.

Anhand seiner Grösse, der Form des Schädels, der Länge des Halses und dem Fehlen von Urinspuren auf dem Hintern erkennt unser Tierfachmann, dass es sich um ein Männchen handelt. Er klärt uns über die Gefahr auf, die es für seinen eigenen Nachwuchs darstellt. Der kennt keinen anderen Feind, abgesehen vom Menschen, der ihn jagt und die Umwelt verschmutzt.

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