Auf Entdeckungsreise in Äthiopien: Das aussergewöhnliche Land, das wegen seiner Berg- und Naturlandschaften manchmal mit der Schweiz verglichen wird, besticht durch die Exotik und den Reichtum seines Kultur- und Naturerbes.
Text und Fotos: Bernard Pichon
Äthiopien hat sich Ferienreisenden erst vor Kurzem geöffnet und ist vom Massentourismus bisher verschont geblieben. Das begrenzte Hotelangebot bietet die Möglichkeit, in das Leben der einheimischen Bevölkerung einzutauchen und ebenso überraschende wie faszinierende Begegnungen zu erleben. «Willkommen im Dorf der unbeugsamen Gallier! », scherzt Brigitte vom Reisespezialisten Voyageurs du Monde. Im Herzen der Hauptstadt Addis Abeba deutet sie auf den stillgelegten, Anfang der Wilden Zwanziger gebauten Bahnhof der ehemaligen französisch-äthiopischen Eisenbahngesellschaft. «Das ist alles, was von der historischen Bebauung auf dem Areal übriggeblieben ist, das kürzlich an Bauträger verramscht wurde.» In der früheren Wartehalle für Reisende nach Djibouti steht ein Modell, das die Masslosigkeit des Immobilienprojekts zeigt. Das architektonische Erbe der äthiopischen Hauptstadt schrumpft zusehends zusammen.
Grosse Unterschiede
Unser Weg führt uns an sehr einfachen Verkaufsständen vorbei, an denen vor allem IT-Artikel angeboten werden; dazwischen Handwerker, die ihren Aktionsradius auf die unbefestigten Trottoirs ausgeweitet haben. Wir befinden uns auf dem Mercato, Afrikas grösstem Strassenmarkt. Brigitte hat hier kürzlich einen Rückspiegel wiedergefunden, der ihr gestohlen worden war. Sie lacht nur darüber. Sehr angesagt ist es, sich bei Woh, dem überfülltesten Fast Food von Addis Abeba, einen Bio-Burger zu gönnen. Die Bedienungen wirbeln unter den strengen Blicken ihres Chefs, der sie zu einem höllischen Arbeitstempo antreibt. Das Schnellrestaurant grenzt an einen überdachten Vergnügungspark. An dessen Ausgang betteln Frauen mit ihren Babys im Arm. Und bis spät in die Nacht trifft man hier auf Kinder, die Klebstoff schnüffeln.
Monumentale Gefühle
Äthiopien nimmt eine Sonderstellung auf dem afrikanischen Kontinent ein, denn die lange kirchliche Tradition des Landes reicht bis zu den Wurzeln des Christentums zurück. Besonders prägend ist der Glaube in Lalibela. Der Wallfahrtsort ist nach einem König benannt, der – nach der Legende mit Hilfe von Engeln – insgesamt elf Kirchen direkt aus der umgebenden Felsformation herausarbeiten liess. Diese faszinierenden, als UNESCO-Weltkulturerbe eingestuften heiligen Stätten rechtfertigen alleine schon eine Reise ins ehemalige Abessinien. Viele Touristen beschweren sich indes über die jüngste Erhöhung der Ticketpreise (auf bisweilen 30 Dollar!), die sie als Erpressung seitens der Religionsbehörden empfinden. Auf Kritik stossen auch die fahle, spärliche Neonbeleuchtung, die bunt zusammengewürfelten Vorhänge zur Verdeckung des Allerheiligsten, die omnipräsenten Stromkabel und die wenig hygienischen Teppiche, über die man schuhlos gehen muss.
Von Schloss zu Schloss
Das auf Gebirgsausläufern errichtete Gondar war vom 17. bis 19. Jahrhundert Hauptstadt der äthiopischen Kaiser. Dort liessen sie eine Reihe von Schlössern erbauen, um sich vor Invasionen zu schützen. Zum Glück überstanden diese Bauwerke die Wirren der Geschichte. Es ist erstaunlich, wie sehr ihre Architektur mitten in Afrika an die Bauweise unserer mittelalterlichen Burgen erinnert! Ein riesiges antikes Wasserbecken wird einmal im Jahr zum Hauptschauplatz des grossen Timkat-Fests, an dem es als Endpunkt einer riesigen Prozession dient. Dort angekommen, bespritzen sich die Teilnehmer zum Gedenken an Christi Taufe mit dem für diesen Tag eingelassenen Wasser. Ein Haufen aus Bambusholz zeugt von einem Drama, das sich im Januar bei den letzten Feierlichkeiten zugetragen hat. Die mangelhafte Konstruktion hatte unter dem Gewicht der Pilger nachgegeben, wobei mehrere Dutzend Gläubige ums Leben kamen.
Das Colorado Afrikas
Die auf 3260 Metern errichteten, höchstgelegenen Schutzhütten Afrikas liegen 125 Kilometer von Gondar entfernt. Der Weg dorthin über holprige Pisten und monotone, von der Trockenzeit verbrannte Hochplateaus verspricht ein echter Härtetest zu werden. Doch dann wird die Reise durch den Anblick exotischer Lehmhüttendörfer, einer von Rindern angetriebenen Dreschmaschine und frei auf der Strasse herumlaufender Esel viel erträglicher als gedacht. In keinem Moment kommt Langeweile auf. Und dann haben wir sie endlich erreicht, die Simien Lodge – ein idealer Ausgangspunkt für fantastische Wanderungen in einer der spektakulärsten Landschaften Afrikas, die zum UNESCO-Welterbe zählt. Die Begleitung durch einen bewaffneten Ranger ist obligatorisch. Unsere Erwartungen werden gleich in die Höhe geschraubt: «Im Simien- Nationalpark sind der Gepard, der äthiopische Wolf, bestimmte Steinbock- Arten und der Fuchs zu Hause.» Über das Fernglas können wir das Luftballett einiger Bartgeier und dann eine eindrückliche Kolonie von Pavianen auf der Suche nach ihren Lieblingswurzeln beobachten. Der von immergrünen Bäumen und von Baumheide gesäumte Weg führt an einem Abgrund entlang. Wir lassen uns am Rand nieder und bewundern die Landschaft, die mit ihren Gipfeln, Tafelbergen und vom Dunst verschleierten Schluchten unweigerlich an den Grand Canyon in den USA erinnert. Dieses chaotische Naturspektakel, das vor rund 40 Millionen Jahren durch intensive Vulkanaktivität entstand und durch Erosion geformt wurde, ist einfach atemberaubend!