Im Golf von Guinea, wo der Greenwich-Meridian und der Äquator aufeinandertreffen, schwimmen einsam und verlassen zwei kleine Konfettis. Zentral gelegen und von der Welt vergessen. Die Natur freut’s.
Text und Fotos : Christophe Migeon
Seit einer Dreiviertelstunde versuchen wir krampfhaft, ihn zwischen dem Laub des Sekundärwalds auszumachen, aber die Überreste der ehemaligen Kakaoplantage machen sich offensichtlich einen Spass daraus, ihn abzuschirmen. Weit kann er nicht mehr sein, seine geradezu magnetische Anziehungskraft ist deutlich spürbar. Der Grillenchor setzt zum fünften Satz seiner zirpenden Symphonie an, als er endlich wie aus dem Nichts auftaucht. Zwischen zwei farnbewachsenen Stämmen sehen wir ihn, den schwarzen Zahn des Grossen Hundes. Auf den Landkarten ist die schmale, hoch aufragende Basaltnadel mit Pico Cao Grande angegeben. Die Einheimischen nennen den erodierten Vulkanschlot einfach nur Pico Grande. Er sieht aus, als hätte ihn Tolkien gezeichnet: wie ein Strahl aus versteinerter Lava, der 300 Meter über das Laubdach emporsteigt und die Wolken kitzelt. Der bizarr anmutende Monolith hat sich bis 1975 erfolgreich gegen jeden Besteigungsversuch gewehrt. Kein Wunder, denn er ist nicht nur so steil wie die Wolkenkratzer Manhattans, sondern auch voller Risse, in denen bissige Schlangen hausen sollen. Unübersehbar wacht der Pico Grande als Wahrzeichen über die 250 Kilometer von der Küste Gabuns entfernte Insel. Auf dem Radar der Touristen ist sie bisher nicht aufgetaucht und wird auch von den Medien weitgehend ignoriert. Umso besser, so bleibt das unberührte Inselparadies mit seinen goldgelben, von schwarzer Lava und Kokospalmen gesäumten Sandbuchten, seiner urwüchsigen Natur, seinen tropischen Regenwäldern und seinen eigenwilligen, nebelverhangenen Vulkanfelsen hoffentlich noch lange ein Geheimtipp.
Seltene Vögel
São Tomé hätte Stevenson gut gefallen, auch wenn die Insel ihren einstigen Wohlstand der Landwirtschaft und nicht der Freibeuterei verdankt. Seit die Portugiesen im Jahr 1471 ihren Fuss auf die Insel gesetzt haben, wussten sie die fruchtbare Vulkanerde gewinnbringend zu nutzen. Im Lauf der Jahrhunderte und der sich verändernden Nachfrage aus Europa wurden an den flachsten Stellen Zuckerrohr, Kaffee und Kakao angebaut und der Urwald vorsichtig in höhere Lagen zurückgedrängt. Der Obô-Nationalpark versucht, die Überbleibsel zu schützen. Ausländische Touristen dürfen das Naturreservat nur in Begleitung eines Guides betreten. Ohne ihn würden sie die meisten Vögel sowieso nicht sehen, geschweige denn erkennen. Spaziergänge durch den üppigen Dschungel werden von viel Gezwitscher begleitet. Einige Melodien klingen lieblich, andere ohrenbetäubend schrill. Antontio Camuenha führt seit 22 Jahren durch den Park und kennt alle seine Bewohner. Das träge Gurren der Zimttaube, das schweineähnliche Quieken des São-Tomé-Pirols, das raue Knirschen des Zügelliest … nichts entgeht seinem geschulten Ohr. Und falls die Vögel einmal schweigen, werden sie von Antonio geweckt. Den heimischen Paradiesschnäpper lockt er, indem er geräuschvoll seinen Handrücken küsst. 17 Vogelarten leben nur auf São Tomé, so viele endemische Arten haben weder die Galapagos noch Hawaii. Mit dem Feldstecher erkennt man den grössten Nektarvogel und den grössten
Webervogel der Welt und entdeckt vielleicht auch den kleinsten Ibis und den Zwergolivenibis, der lange als ausgestorben galt, bevor er Ende des 20. Jahrhunderts wieder gesichtet wurde.
Die Schokoladenfee
Um 1820 wurden die ersten Kakaobäume als Zierpflanzen eingeführt. Schon bald zeigte sich, dass die Insel die besten Voraussetzungen für das empfindliche Gewächs bot: die richtige Temperatur, eine ideale Luftfeuchtigkeit und einen Schattenwald. Die Kakaopflanzen gediehen so gut, dass sich São Tomé Anfang des Jahrhunderts zum weltweit führenden Kakaoproduzenten entwickelte. Als Westafrika mit der Massenproduktion begann, ging es mit dem Kakaogeschäft rapide bergab. Im Kampf um die Unabhängigkeit im Jahr 1975 wurden die grossen Kaffee- und Kakaoplantagen – die sogenannten Roças – verstaatlicht, was den goldenen Schokoladenjahren ein endgültiges Ende bereitete. Seither ist die Insel in einen Dornröschenschlaf verfallen und trauert der erfolgreichen Vergangenheit nach. Mit dem Einzug des Multiparteiensystems im Jahr 1991 nahmen einige Privatunternehmer die Plantagen wieder in Betrieb, setzten dabei aber nicht auf Quantität, sondern auf Qualität. Viele Roças wurden jedoch ihrem Schicksal überlassen. Langsam, aber stetig ist die Zeit in ihre Gemäuer gekrochen, hat an ihnen genagt und sie verzehrt. Übrig geblieben sind verträumte Ruinen, in denen die Vegetation die Kontrolle übernommen hat und die trotzdem eindrücklich von der Vergangenheit erzählen. Ein Besuch einer solchen Roça gehört zu den Highlights jeder Wanderung.
Gefährliche Netze
Die Roça Agua Ize und ihre alten Gebäude aus dem Jahr 1913 im Osten der Insel ersticken unter der würgenden Umarmung der Ficus. Wenige Meter weiter fahren aus Kapokstämmen geschnitzte Pirogen aufs Meer hinaus, angeschoben von Segeln aus zusammengenähten Reissäcken. In den 1980er-Jahren erhielten die Fischer die ersten Aussenbordmotoren, dennoch gehört das Land noch immer zu den ärmsten der Welt und ist für mehr als die Hälfte seines BIP auf internationale Hilfe angewiesen. Um sich über Wasser zu halten, haben einige Fischer eine eigene Technik entwickelt. Wie die funktioniert, sieht man beim Tauchen um die Insel Santana – einem grossen, nassen Felsen ein paar Steinschläge vor der Küste. Der erste Kontakt mit dem Wasser ist eine angenehme Überraschung. Da der Guineastrom aus Westafrika vor São Tomé auf den Benguelastrom trifft und ihn abdrängt, ist das Meer hier wunderbare 28°C warm und glaskar. Zwar hat sich auch hier wie fast überall auf der Welt der Fischbestand durch die Überfischung gelichtet, man trifft aber trotzdem bei jedem Tauchgang auf grosse, silbrig schimmernde Schnapper, scheue Kraken und tischbreite Stechrochen. Glitzernde Barrakudaschwärme patroullieren zwischen den Lichtstrahlen, gespenstische Muränen schlängeln sich über den Sand- und Steingrund, während putzige Seepferdchen vor kleinen, mit Schnüren umwickelten Steinen schweben. Beim näheren Hinschauen entpuppen sie sich diese als Netzgewichte. Die heimischen Fischer tauchen mit Sauerstoffflaschen, um ihre Beute zu erschrecken, die dann wortwörtlich ins Netz geht. Sobald die Fische festsitzen, wird das Netz von den Gewichten getrennt und hochgezogen. Das Problem dabei: Viele dieser Fischer haben nicht einmal Grundkenntnisse vom Tauchen und schiessen ohne jeglichen Dekompressionsstopp wie Raketen nach oben. Da es auf der Insel keine Überdruckkammer gibt, sterben so jedes Jahr zwei bis drei Menschen.
In São Tomé gibt es noch andere interessante Tauchspots. Im Nordosten liegen die beiden Wracks Pico Douro und Marvasa, umgeben von riesigen Schwärmen rot leuchtender Soldatenfische. Und von Juni bis September bringt der Gesang der Buckelwale die Lungen der Taucher zum Vibrieren. Wer sich nach noch mehr Leben sehnt, sollte die 170 Kilometer weiter nordöstlich gelegene Insel Príncipe besuchen. Sie liegt auf einer doppelt so grossen Kontinentalplatte und hat nur gerade 6000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die Zwillingsinsel von São Tomé ist eine unberührte Naturoase mit unermesslichen Schätzen über und unter Wasser.
Milliardär mit grünem Bewusstsein
Ein Boot verkehrt regelmässig zwischen den beiden Inseln. Da es allerdings nicht immer pünktlich ist oder manchmal gar nicht kommt, ist das Flugzeug die bessere Option. In nur 35 Minuten erreicht man das kleine
Paradies, das zur Hälfte zum Unesco-Biosphärenreservat erklärt wurde. In Príncipe hat der Mensch der unzähmbaren Natur das Zepter überlassen. Netzfischerei zum Beispiel ist verboten. Auf einem Gebiet, das kleiner ist als Liechtenstein, lassen sich Gesetze relativ einfach durchsetzen. Seit einigen Jahren hilft dabei auch der Milliardär Mark Shuttleword aus Südafrika. Er hat sein Vermögen mit Internetsicherheit und dem weltberühmten «I’m not a Robot»-Test erwirtschaftet und sich seinen Traum erfüllt, als Weltraumtourist ins All zu fliegen. Während seines achttägigen Aufenthalts an Bord des Sojus-Raumschiffs soll ihm bewusst geworden sein, wie fragil unser Planet ist. Und er soll durch das Bullauge unter der Achsel Afrikas das winzige Príncipe entdeckt haben. Seither setzt sich der afrikanische Steve Jobs für den Schutz der Insel ein. Er betreibt zwei Luxusresorts für eine exklusive, natur- und traditionsbewusste Gästeschaft und unterstützt die Lokalbevölkerung. So liess er beispielsweise die Start- und Landebahn verlängern, damit mittelgrosse Flugzeuge die Insel günstiger anfliegen können, und im Hauptort Santo Antonio ein starkes WLAN installieren, das von der handyaffinen Jugend rege genutzt wird.
Naturparadies Príncipe
Von der kleinen Insel Bom Bom, auf der Shuttleworth zwischen zwei hellen Sandstränden seine Holzbungalows errichtet hat, fährt das kleine Tauchboot zum Ilheu dos Mosteiros, einem nur von Meeresvögeln bewohnten Eiland. Die Nordküste von Príncipe birgt lauter unberührte Buchten. Sie sind von schwarzer Lava gesäumt und scheinen noch nie ein Badetuch gesehen zu haben. Praia Campanha, Praia das Burras, Praia Banana, Praia Macaco und Praia Boi erinnern an kleine Garten Eden. Hier und da muten runde Felsen vor sanft geneigten Kokospalmen an wie Postkartenlandschaften der Seychellen. Das kristallklare Wasser offenbart grosse Basaltblöcke, die mit scharlachroten Schwämmen und verkrusteten Algen überzogen und wie ein überschwemmter «Giant’s Causeway» treppenartig angeordnet sind. Rundherum verleihen riesige Füsilier-Schwärme in elektrisierenden Farben dem atlantischen Gemälde eine tropische Note. Die Hauptrolle dieses Unterwasserspektakels aber spielen zwei grüne Meeresschildkröten, die unter einem Felsen inmitten von Gorgonien vor sich hindösen. Zurück in Bom Bom geht es zu Fuss nach Ribeira Ize. Dort hatten am 17. Januar 1471 die beiden Seefahrer Pedro Escobar und Joao de Santarem einen Monat nach ihrer Ankunft in São Tomé angelegt. Später wurde aus dem Ort die Hauptstadt von Príncipe, bevor er Anfang des 20. Jahrhunderts wieder der Natur überlassen wurde. Durch die über 500 Jahre alten Ruinen zu schlendern, die unter der übermächtigen Natur zu ersticken drohen, ist eine bewegende Erfahrung. Die verlorene Stadt strahlt etwas Wildromantisches und Geheimnisvolles aus. Ein Schwarm kreischender Papageien zeigt den Weg in das Dickicht. Zwischen tropfendem Laub stürzen in Gischtwolken eingehüllt Wasserfälle in die Tiefe. Das Landesinnere von Príncipe ist ein Mekka für Naturabenteurer. Es locken die Besteigung des Pico Papagaio, dem höchsten Punkt der Insel, und ein erfrischender Spaziergang zum Wasserfall Oque Pipi. Wie bloss soll man dieses Paradies wieder verlassen?
Praktische Infos
Anreisen
Mit TAP ab Genf, rund 13,5-stündiger Flug nach São Tomé, Zwischenstopp in Lissabon und in Accra (Ghana), ab 900 €. flytap.com Ein Hin- und Rückflug zwischen São Tomé und Príncipe kostet rund 200 €. Schweizerinnen und Schweizer benötigen einen Pass, der bei der Rückreise noch mindestens sechs Monate gültig ist.
Beste Reisezeit
Es gibt zwei Trockenzeiten, eine kurze (Gravanhita) von Januar bis Februar und eine lange (Gravana) von Juni bis September. Auch wenn es dann weniger regnet, entsprechen sie nicht unbedingt den besten Reisezeiten, denn es ist oft bedeckt und die Sonne scheint selten. Die kühleren Regenzeiten von Oktober bis Dezember und von März bis Mai, eignen sich besser. Dann zeigt sich zwischen den Regenschauern meist die Sonne.
Übernachten
In São Tomé:
Rocks Tree House. Ein sympathisches Gästehaus mit einer gemütlichen Terrasse direkt über dem Meer bei Santana, eine halbe Autostunde südlich der Hauptstadt. Das Geräusch der Brandung wiegt die Gäste in den Schlaf. Ab 70 € pro Nacht. Der französische Expat Yves betreibt auf dem gleichen Gelände fünf weitere, ebenso gut gelegene
Gästehäuser. Tel.: +239 995 05 80
In Príncipe:
Bom Bom Resort. Der südafrikanische Eigentümer Mark Shuttleworth ist mit Internetsicherheit reich geworden. Er hat unter anderem das «I’m not a Robot»-System erfunden und war der erste afrikanische Weltraumtourist. Shuttleworth soll durch das Bullauge des Raumschiffs vor der afrikanischen Küste einen kleinen, grünen Flecken – Príncipe – entdeckt und sich geschworen haben, ihn sich aus der Nähe anzuschauen. Das hat er dann tatsächlich getan und an zwei Traumstränden gleich 19 Bungalows gekauft. Das Restaurant des Luxusresorts befindet sich auf der kleinen Insel Bom Bom am Ende eines langen Holzstegs. Langweilig wird den Gästen dank des breiten Freizeitangebots garantiert nicht. Auf dem Programm: Tauchen, Wandern im Biosphärenreservat, Schildkrötenbeobachtung zur Brutzeit und vieles mehr. Ab 300 € pro Nacht mit Frühstück.
Tel.: +239 996 99 90, bombomPríncipe.com
Tauchen
In São Tomé:
Das Atlantic Diving Center in Santana wird vom erfahrenen Taucher Alberto Miranda geleitet. Getaucht wird direkt gegenüber um die Insel Santana, weiter nördlich bei den Fischboot- Wracks Pico Douro und Marvosa und vor den Stränden von Lagoa Azul, wo Seepferdchen beheimatet sind. Vier
Tauchgänge für 180 €. Tel.:+239 990 44 24,
www.atlanticdivingcenter.com
Beste Tauchzeit ist Oktober bis April, dann ist das Meer besonders ruhig. Die Wassertemperatur liegt zwischen 25 und 30°C.
In Príncipe:
Der beste Tauchspot befindet sich direkt vor dem Bom Bom Resort im Norden der Insel. Zwei Tauchgänge für 130 €.
Tel.: +239 225 11 41, bombomPríncipe.com