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Expedition im Scoresby Sund im Osten Grönlands: Extremer Breitengrad, rebellische Schönheit

von Quentin Mayerat

Eisberge so gross wie Dörfer schwimmen majestätisch auf dem Wasser. Vor uns liegt einsam und verlassen der Scoresby Sund. Das 350 Kilometer lange Fjordsystem ist drei Monate im Jahr nur mit dem Boot erreichbar, so auch jetzt. Für einen Inuit besitzt der Sund, wie alles auf dieser Erde, eine Seele.

Ein dicker Eisbrocken reibt am grün glänzenden Kupferbeschlag, der den Rumpf des Schoners Opale umgibt. Das Meer ist spiegelglatt und das schwarze Wasser unbeweglich, aber nicht gefroren. Je weiter wir in den Scoresby Sund vordringen, desto zahlreicher werden die Eisstücke, die auf dem dunklen Wasser ein immer dichteres Punktemuster zeichnen. Kapitän Heimir Harõarson heisst uns, die bereits eingeholten Segel zu verstauen und setzt dabei seine dank Elektroantrieb geräuschlose Fahrt fort. Die Eiswürfel breiten sich schnell aus. Wie neugierige weisse Meereskreaturen nähern sie sich von allen Seiten, um uns in Augenschein zu nehmen. Aus den Würfeln werden Brocken, aus den Brocken Platten. Am Horizont verdichtet sich das Eis schliesslich zu einem imposanten Berg. Jetzt ist das Eis überall. Der schmelzende Schnee gleitet langsam über das Kupfer und verschwindet dann unter dem Rumpf. Wir nähern uns vorsichtig Solglacier. Die zwölf Kilometer lange Eismasse bewegt sich träge zehn Meter pro Tag vorwärts und gilt dennoch als ein schnell wandernder Gletscher. Dieser treibende, unhaltbare Gigant sorgt für ein nicht endendes, ohrenbetäubendes Spektakel.

Eine blaue Eislawine löst sich mit unbeschreiblichem Lärm. Man könnte meinen, ein Jet durchbreche die Schallmauer und 30 Meter daneben starte eine 747 die Motoren. Blaues Eis ist altes Eis. Zu unserer Rechten purzeln scharenweise Eisbrocken ins Wasser, befreit vom Gletscher, zu dem sie Tausende, wenn nicht sogar Zehntausende von Jahren gehört hatten. Die Opale gleitet langsam

Ergreifende Natur

#renekosterphotographyScoresby Sund – auf Inuit Kangertittivaq – liegt im arktischen Ozean, an der Ostküste Grönlands, genau auf 70° 32’ nördlicher Breite und 24° 21’ westlicher Länge – also über dem Polarkreis. Das Fjordsystem trägt den Namen des englischen Walfängers und Entdeckers William Scoresby, der die Küsten des Kangertittivaq 1822 kartografierte. Der Scoresby Sund ist ein Meeresarm der Superlative: Er erstreckt sich über 350 Kilometer und ist aufgrund seiner unzähligen Verästelungen der grösste Fjord der Welt. Stellenweise erreicht er eine Tiefe von 1500 Metern und die steilen Granit- und Basaltwände, die ihn begrenzen, sind bis zu 3000 Meter hoch. Vor dieser imposanten Naturerscheinung fühlt man sich so klein wie sonst nirgendwo.

Wir segeln von Constable Pynt durch den Hurry-Fjord in Richtung Ittoqqortoormiit. Der 429-Seelen-Ort ist die grösste Siedlung Ostgrönlands. „Bis um 1800 lebten in dieser Region die Völker der Thule-Kultur, die Vorfahren der Inuit“, erklärt Þórõur (Thordur) Ívarsson, der Techniker der Opale und, wie wir bald merken, ein wandelndes Geschichtsbuch. „Heute spricht man von globaler Erwärmung, zwischen 1650 und 1850 erlebte die Erde hingegen eine globale Klimaabkühlung“, setzt er seine Erzählung fort. „Diese Periode wird auch kleine Eiszeit genannt. Die Thule-Völker waren zwar abgehärtet und eisige Kälte gewohnt, zogen sich aber doch für über ein Jahrhundert aus dieser Region zurück. Kein Mensch wagte sich in dieser Zeit in dieses Gebiet vor. Einige Zeit stritten die Dänen und die Norweger um Ostgrönland und ab 1925 bauten die Dänen dort ihre Tätigkeiten aus. Gleichzeitig beschloss das Kolonisationsbüro von Scoresby Sund, 85 Inuit aus dem Westen Grönlands hier anzusiedeln. Noch heute zeugen Thule-Siedlungsrelikte von dieser Zeit.

Isoliert

vom Rest der Welt Um zu verstehen, wie abgeschieden diese Region wirklich ist, muss man wissen, dass das Meer von Oktober bis Juni zugefroren ist. Kein Schiff dringt dann bis hierher vor. Ittoqqortoormiit bedeutet „Ort mit grossen Häusern“. Die Gebäude sehen aus wie bunte Legoklötze mit spitzen Dächern und fristen auf einigen kargen Felsen ein einsames Dasein. Dazwischen hallt das laute Gebell von Hunden. Die Siedlung zählt dreimal mehr Hunde als Menschen. Jemand muss ja schliesslich die Schlitten ziehen… Ich klettere in ein Schlauchboot und wir überqueren das leicht aggressive Meer bis zur Mole. An einer Leiter sind mehrere ins Wasser baumelnde Seehundgerippe festgebunden. Das Meer dient hier als Kühlschrank und die Hunde von Ittoqqortoormiit lieben Robbenfett.

Arktische Seelen

Die Familie von Ingrid Anike begrüsst uns herzlich. Sie tischt uns Moschusochragout auf. Das gute, fettreiche Fleisch schmeckt wie Rind. Die Jagd hat hier oben einen hohen Stellenwert. In der Mündung des Scoresby Sund leben Vögel, Robben, Hasen, Polarfüchse und sogar Eisbären. Für die Inuit ist der Fjord eine riesige Vorratskammer. „Für die Inuit hat alles eine Seele, eine sogenannte Anirniq“, erklärt Ingrid. „Zusammen bilden sie Anirniit, das Reich der Geister. Die Inuit verehren niemanden, fürchten sich aber umso mehr. Das ist angesichts der extremen Bedingungen nicht überraschend. Solange Anirniit zufrieden ist, herrscht Wohlstand. Aber wehe, wenn sich die Geister gegen einen wenden!“ Wird ein Inuit von einem Eisbär getötet, so ist das die Rache von Nanoek, dem Herrscher der Eisbären. Der Junge, der ein paar Stunden vor unserer Ankunft im Meer ertrunken ist, wurde von Sedna, der Herrscherin der Meere, verschluckt. Mein persönlicher Lieblingsgeist ist Mahaha, ein Teufel, der in der ganzen Arktis Angst und Schrecken verbreitet und seine Opfer zu Tode kitzelt. Warum? Weil Menschen, die erfroren sind, oft ein Lächeln auf den Lippen haben.

Wir segeln nach Fønfjord. Zum ersten Mal seit drei Tagen geht ein Wind, noch dazu ein anständiger. Kapitän Heimir befiehlt uns, alle Segel zu setzen. Wir ziehen an den Seilen, bis unsere Hände brennen und die Segel gehisst sind. Meistens sind die Fjorde von Scoresby Sund relativ ruhig und fast windstill. Wenn aber der Piteraq aufkommt, kann der Wind so furchterregend sein wie nirgendwo sonst. Der Piteraq ist ein Fallwind, der von der Eiskappe Grönlands kommt und in die Fjorde bläst. Die Eiskappe ist riesig und stellenweise über drei Kilometer dick. Neun Prozent des Süsswassers unseres Planeten sind darin eingeschlossen. Aufgrund der Rückstrahlung des Eises liegt darüber immer ein Hochdruckgebiet. Stösst dieses auf ein Tief vor der Küste, können sich in den Fjorden heftige, orkanartige Winde bilden. Zum Glück bleibt der Wind heute stabil bei Stärke 5. In diesen Breitengraden hat die Natur das Sagen und sie ist selten gutmütig.

Diskohimmel

#renekosterphotography

Es wird Nacht. Sie ist kristallklar. Die Vielzahl Sterne am Himmel stimmen mich fast wehmütig. Ein Glas isländischer Brennivin gekühlt mit hundertjährigen Eiswürfeln, die wir aus einem blauen Eisstück geschnitten haben, verstärkt dieses Gefühl zusätzlich. Ich bestaune den mit Sternen gespickten Himmel, als wie aus dem Nichts ein grünes Licht in der dunklen Nacht explodiert. Es hat etwas Unheimliches und bewegt sich schnell weiter, trübt sich und wird dann wieder hell. Links von mir ereignet sich eine weitere Explosion, danach wieder rechts. Rosa und orangefarbene Nebelstreifen bewegen sich hoch oben am Himmel, manche sind so hell wie Scheinwerfer, andere zucken wild. In der grönländischen Polarnacht herrscht Diskostimmung. Diese Leuchterscheinung ist als Nord- oder Polarlicht bekannt. Dabei handelt es sich um Sonnenwind, der viele elektrisch geladene Teilchen enthält. Wenn diese Teilchen in der Erdatmosphäre auf Sauer- und Stickstoffatome treffen, wird Energie freigesetzt und in einer Höhe von 80 bis 1000 Kilometern in Form von farbigen Lichtern ausgestrahlt. Ich habe bereits Nordlichter gesehen, aber noch nie wie hier so klar, so zahlreich, so oft und so lange. Und gehört habe ich sie zuvor auch noch nie. Die Nacht dauert lange, denn von einem solchen Naturschauspiel kann man sich kaum mehr losreissen. Wer weiss, ob wir jemals wieder etwas so Schönes zu Gesicht bekommen? Wir sind offenbar von Glück gesegnet, denn schon am nächsten Abend wiederholt sich das Spektakel… und am übernächsten nochmals. Der Mondgott Igaluk spielt weiter mit seinem Bruder, dem Sonnengott.

Intakte Schönheit

Man fürchtet sich fast davor, den Kopf nach rechts zu drehen, aus Angst, man könnte auf der linken Seite etwas verpassen. Als Reiseautor und erfahrener Segler habe ich auf den sieben Weltmeeren schon viele schöne Orte gesehen, auch in der Antarktis und in der Drakestrasse. Das Wasser in Ostgrönland aber ist kristallklar und das schönste, das mir je vergönnt war zu erleben. Ich ziehe es sogar der Antarktis vor, weil hier Pflanzen leben, während das Meer am Südpol schwarz und karg ist. Als wir Ittoqqortoormiit anlaufen, passieren wir die Bäreninsel Bjørne Øer. Sie verdankt ihren Namen der bizarr geformten Küste, die den Krallen eines Bären gleicht. Es ist 4.45 Uhr morgens, die Sonne geht in einem Farbenmeer auf. Von der Sonne geküsst leuchten die spitzen Berggipfel von Bjørne Øer rosa. Das Meer ist spiegelglatt, scheint goldfarben und hellblau. Am Horizont bricht ein Eisberg von der Grösse einer kleinen Stadt ab. Der übrig gebliebene Eiskoloss verliert sein Gleichgewicht und rollt Wellen bildend langsam zur Seite. In der Nacht haben sich auf dem Wasser feine Eisplatten gebildet, für uns ein Zeichen, dass wir den Scoresby Sund verlassen müssen. Das wilde Ostgrönland schliesst seine Tore und bereitet sich auf die unaufhaltbare Rückkehr des Winters und eine unglaublich harte Mutter Natur vor.

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