Die grösste Atlantikinsel ragt wie ein ungeschliffenes Juwel aus dem tiefgrünen Ozean. Unter Segeln lässt sich das vom Meer umspülte Stück Land gemütlich erkunden – von einer Wassersperre zur nächsten, unterbrochen von Landgängen mit spannenden Begegnungen.
Der Coureau d’Oléron ist an seiner schmalsten Stelle nur gerade 1,5 Seemeilen breit. Seit 1966 verbindet eine Brücke das Festland mit der Insel. An vier, fünf Stellen ist sie hoch genug, dass die Boote durchfahren können, ohne ihren Mast zu opfern. Dahinter, in Richtung Norden, verläuft der Chenal d’Ors mit seinen unendlich langen Austernbänken. Es gibt schliesslich einen Grund, warum der Name Oléron – zusammen mit dem von Marennes – bei vielen Bilder von Seafoodplatten heraufbeschwört, auf denen diese grünlichen Muscheln ihr letztes Dasein fristen. Gut ein Viertel des 90 Kilometer langen Küstenstreifens von Oléron ist im Schlick des Wattenmeers gefangen. Flüsse und Gezeiten entledigen sich dieses dubiosen, aber nährreichen Schlamms in unüberschaubaren Mengen. Austernzüchter wie Benoît Massé haben dort ihre Parks eingerichtet. Bei ihrem täglichen Besuch begutachten sie die Muscheln sorgsam wie junge Eltern ihren Säugling im Brutkasten. Eingepackt in einen wasserdichten Anzug, bis zum Bauch im trüben Wasser watend, nehmen sie ihre Pensionäre in Augenschein, die gähnen, als wollten sie ihre Schalen sprengen. Die trägen Weichtiere sind trotz ihres robusten Äusseren zart besaitet und brauchen viel Pflege, was wiederum viel Arbeit bedeutet, die manchmal ganz schön undankbar sein kann. So müssen zum Beispiel Tausend Säcke à je 10 bis 15 Kilo Austern innerhalb eines einzigen Nachmittags umgedreht werden. Und obwohl die subtile Kombination aus Atlantik und Seudre-Mündung bei den Tierchen für rosige Backen sorgt, müssen sie für den idealen Teint doch noch ins klare Wasser. „Dort machen sie Bekanntschaft mit der blauen Navicula, einer mikroskopisch kleinen Kieselalge, die ihnen die so besondere Farbe verleiht“, erklärt Benoît, während er sich ins Boot hievt. Der durchschnittliche Preis von 4000 Franken pro Tonne ruft aber auch Schurken auf den Plan. Verschwundene Säcke, Hexenschuss oder klamme Finger in den Handschuhen sind jedoch nicht die grössten Probleme. „Gegen Kälte, Hitze und Müdigkeit kann man vorgehen, den Launen der Natur sind wir aber hilflos ausgeliefert. Ein Sturm, ein Virus und alles ist verloren!“ Seit fünf Jahren befällt ein Herpesvirus den Muschellaich. Er zerstört pro Jahr rund 80 Prozent der Produktion, eine echte Katastrophe. Um das Problem zu beheben, werden Versuche mit neuen Arten wie den Austern aus der Gironde-Mündung unternommen. Sie scheint resistent zu sein. Benoît verzieht das Gesicht: „Wenn wir eine neue Art einführen, müssen wir den Laich kaufen. Den Austernzüchtern geht es dann gleich wie den Landwirten: Ihnen sind gegenüber Monsanto für alle Saaten die Hände gebunden!“
Hinterlistiges Täuschungsmanöver
Oléron ist nicht nur ein Austernmekka, sondern auch für seine zwischen Himmel und Meer schwebenden Festungen bekannt. An Steuerbord liegt das Fort Louvois, vom übereifrigen Baumeister Vauban auf einem bei Flut unter Wasser stehenden Felsen gebaut. Es sollte ursprünglich das Marinearsenal von Rochefort vor den heimtückischen Angriffen der englischen Schiffe schützen. Heute beherbergt es das Austernmuseum. Die Fahrt geht weiter Richtung Norden zu seinem grossen Bruder. Sein Ruhm als Fernsehstar ist ihm etwas zu Kopf gestiegen. Das Fort Boyard ist eine technische Meisterleistung. Es wurde auf der Longe de Boyard, einer zwei Seemeilen langen und alle sechs Stunden von der Ebbe verschluckten Sandbank errichtet. Mit dem Bau wurde bereits unter Napoleon begonnen. Da das Fundament aber absackte, wurden die Arbeiten zwischenzeitlich eingestellt. Erst ein halbes Jahrhundert später, als sein Neffe Napoleon III. Frankreich regierte, konnte der Bau abgeschlossen werden. Jedes Jahr zwischen Ende Mai und Anfang Juli drehen hier die Filmteams aus mehreren Ländern ihre Folgen. Krampfhaft versucht man ein paar Prominente zu erblicken, wie sie mit Kraft, Geschicklichkeit und Ausdauer die kniffligen Aufgaben des Spiels lösen. Doch die dicken Mauern geben nichts preis. In der Meerenge zwischen Oléron und der Île de Ré, dem Pertuis d’Antioche, durchstösst ein weiteres Bauwerk das bleierne Meer wie ein Dolch. Wellen- und windgepeitscht von griesgrämigen, unnachgiebigen Naturgöttern weigert sich die Tour d’Antioche klein beizugeben. Bevor der Turm 1925 in Betrieb genommen wurde, hat sein Felsenfundament über hundert Schiffe ins Verderben gestürzt. Böse Zungen behaupten, dass die Bewohner von Oléron etwas nachgeholfen haben. Sie sollen einem Esel eine Laterne um den Hals gehängt und ihn in Küstennähe angebunden haben. Das schwankende Licht ahmte die Laterne eines ankernden Schiffs relativ getreu nach. In mondlosen Nächten steuerten die Kapitäne ihre Boote in Richtung des Lichts, da sie glaubten, dort befinde sich ein befahrbarer Kanal. Wenn sie ihren Irrtum bemerkten, war es zu spät. Sie liefen jämmerlich am Ufer auf. Dieser amüsante Zeitvertreib sorgte an den langen Winterabenden auf dieser Insel, auf der man sich oft zu Tode langweilte, für viel Gelächter und konnte darüber hinaus noch einträglich sein. Keine Angst, es ist lange her, seit auf Oléron der letzte Esel zum Laternenschwanken missbraucht wurde.
Faszinierende Meereslandschaften
An der felsigen Nordwestküste markiert der Chassiron-Leuchtturm im schwarz-weiss gestreiften Sträflingsoutfit den nördlichsten Punkt der Insel. Einheimische und Touristen kommen hierher zum Muschelsammeln. Mit 50’000 Personen pro Jahr ist Oléron einer der bedeutendsten Orte für diesen Zeitvertreib, was auch negative Folgen hat. Vor rund zehn Jahren beklagten sich die Einwohner, dass die Sommergäste das Wattenmeer zerstörten. Felsen mitsamt den daran haftenden Tiere wurden umgestossen und in der prallen Sonne liegen gelassen, Böden regelrecht gepflügt, rücksichtslos Riesenmengen gesammelt und dann wieder weggeworfen und sich einen Dreck um die Grössenvorgaben geschert. „Durch die umgedrehten Steine sterben jedes Jahr mehr Arten aus und die Qualität der verbleibenden Arten nimmt ab“, bedauert Jean- Baptiste Bonnin von der Vereinigung IODDE, die sich für ein nachhaltiges Muschelsammeln einsetzt. „Wir sind aber dabei, das Problem zu lösen. 2006 legten 40 Prozent der Krabbenfischer die Steine nicht wieder an ihren ursprünglichen Ort zurück. Nach einer gross angelegten Aufklärungsaktion sind es heute nur noch 3 bis 4 Prozent.“ Die Einheimischen waren nie grosse Seeleute. Sagen wir es mal so, um sie nicht vor den Kopf zu stossen: Die meisten gehörten einer maritimen Bauernschaft an, die es bequemer fand, am Ufer Schalentiere oder Fische zu sammeln, als dazu aufs offene Meer zu fahren und unnötige Gefahren auf sich zu nehmen. Zusätzlich zum Muschelsammeln versorgten sich die Bewohner an den Fischschleusen mit der nötigen Nahrung. Diese aus Felsbrocken am Meeresufer errichteten Wälle enthielten Öffnungen, die mit Gittern abgedeckt wurden, sodass das Wasser bei Ebbe abfliessen konnte, während die bei Flut ins Innere gespülten Fische zurückblieben. Im 17. Jahrhundert gab es auf der Insel insgesamt 250 solcher Fischschleusen. Auf Oléron sind 17 erhalten geblieben, nur drei davon mussten neu aufgebaut werden. Der in den 1960er-Jahren rasant wachsende Touristenstrom beschleunigte das Ende dieser findigen Fallen. Viele Gäste sahen in den Austern, die die Wälle zusammenhielten, nur eine Gelegenheit, sich kostenlos den Bauch vollzuschlagen und richteten eine heillose Zerstörung an. Vor sechs Jahren beschlossen Philippe Roy und ein paar Freunde, die Ménounière- Schleuse instand zu setzen. Ausser ein paar eingebrochenen Abschnitten war nicht mehr viel von ihr übrig. „Niemand glaubte an uns. Das Unterfangen sei unmöglich, hiess es. Wir haben über 3000 Tonnen Steine gewälzt, einige waren riesig“, erinnert sich Philippe und hält sich dabei gedankenversunken den Rücken. Mit Geduld und Spucke schafften es die Männer schliesslich, den 1,1 Kilometer langen, zwei Meter hohen und vier Meter breiten Wall wieder aufzurichten. Aber eigentlich fängt die Arbeit jetzt erst an. Bei jeder Ebbe müssen die Fische aus der Schleuse geholt werden.
Driftende Dünen
Vielleicht ist es angesichts dieser Sisyphusarbeit dann noch nicht so falsch, die Fische auf offenem Meer zu fangen. Auf Oléron wurde mit der Hochseefischerei erst im 19. Jahrhundert begonnen. Cotinière in der Mitte der Westküste ist der einzige Fischerhafen der Insel, der grösste in Charente-Maritime und der siebtgrösste Frankreichs. 80 Berufsschiffe sind hier registriert: Netzfangschiffe, Langleinenfischer, Schleppangler, die jeweils für rund drei Tage aufs Meer fahren. Yoann Crochet (33) ist einer von mehreren jungen Chefs, die langsam, aber sicher die Älteren ablösen. Er hat gerade die Univers gekauft. Das Schiff gehörte seinem Vater und auch er hat acht Jahre darauf geschuftet. „Acht Jahre musste ich mich darauf anschreien lassen“, gesteht er grinsend. „Ich habe mein Glück bei der Armee und beim Personentransport versucht, aber am liebsten mag ich die Fischerei und die damit verbunden Unwägbarkeiten und Freiheiten.“ Das Meer ist tatsächlich immer für Überraschungen gut – manchmal für gute, wenn beispielsweise die Netze voll sind, manchmal aber auch für schlechte, wie bei jenem Grossvater, Onkel oder Freund, der nicht mehr vom Meer zurückgekehrt ist. „Natürlich geraten wir hin und wieder in gefährliche Situationen, aber die grösste Gefahr ist der Papierkram, den man uns auferlegt. Uns werden völlig unsinnige Dinge von Leuten vorgeschrieben, die keine Ahnung von unserem Beruf haben!“, entfährt es dem Fischer entnervt. Weiter südlich segeln wir endlos langen Stränden entlang, auf denen die Brandung die Muscheln durcheinanderwirbelt und glattschleift, bevor sie in den Schaumkronen verschwinden. Das Hin und Her der Wellen nagt auch an den Dünenstränden von Remigeasse, Vert Bois und la Giraudière. Um die Erosion zu stoppen und den Sand zu binden, hat das nationale Forstamt Pinien gepflanzt sowie Latten- und Dünenzäune errichtet. Das Meer ist aber stärker und nimmt sich fordernd alles zurück, was es in den letzten Jahrhunderten angeschwemmt hat. Die Pointe Gatseau am südlichsten Zipfel der Insel schrumpft jedes Jahr um zwanzig Meter. Versandete Baumstrünke, die bald vom tosenden Wasser verschluckt werden, haben sich bereits von der Welt verabschiedet. Einige bewegen noch ihre gerippeartigen Astreste, um den Seglern auf dem Weg zum Pertuis de Maumusson viel Glück zu wünschen. Die Versuchung, diesen nur gerade eine halbe Seemeile breiten Meeresarm zu befahren, um den Kreis um Oléron zu schliessen, ist gross. Da er aber extrem schmal und flach ist, lauern viele tückische Untiefen und unvorhersehbare Strömungen. Manchmal findet man sich besser damit ab, dass man etwas nicht zu Ende bringen kann.
REISE-INFOS
Anreise
Ab Genf acht Autostunden über die A40 bis Oléron. Die Überquerung der Brücke ist gratis. Alternative: Mit dem Zug bis nach La Rochelle, vom Bahnhof in einem 5-minütigen Fussmarsch bis zur Anlegestelle von „Croisières Inter-Îles“ und von dort mit dem Schiff nach Boyardville oder Saint-Denis d’Oléron.
Bootscharter
Grosse Auswahl an Katamaranen in La Rochelle. z.B. ein Bicok: Open- Katamaran, 21 Fuss, 2 Tage und 1 Nacht für 456 € (ausserhalb der Hochsaison im Juli und August). Weitere Infos: location-bateau-la-rochelle.fr
Für massgeschneiderte Reisen und/oder Törns: my charter, info@mycharter.ch, mycharter.ch oder SailPro,alain@sailpro.ch, sailpro.ch
Fort-Boyard-Tour mit dem Segelboot
Von April bis Oktober täglich mit dem Katamaran Île ou Aile. Sie sehen die legendäre Festung aus nächster Nähe. Es werden auch Sundowner-Fahrten mit Apero angeboten. Tagsüber muss man sich mit einem Pineau zufriedengeben. Max. 25 Passagiere, 25 € pro Person. Dauer: eine Stunde. ileouailecatamaran.com
Weitere Infos
Auf der offiziellen Website des Fremdenverkehrsamtes der Insel Oléron und Marennes finden Sie alle wichtigen Informationen für die Organisation Ihres Aufenthalts: oleroninsel.de