Gozo ist kleiner als Malta und liegt auch hinsichtlich der Besucher auf dem zweiten Platz. Wenn es um ländlichen Charme und Authentizität geht, ist die Insel allerdings die erste, an die wir unser Herz verlieren. Auf diesem idyllischen Flecken Erde der Bauern und Fischer rieselt die Zeit leise zwischen den nach Thymian und wildem Fenchel duftenden Feldern und Obstgärten dahin. Rund herum glitzert das Mittelmeer, auf dem im Oktober die Teilnehmer des Rolex Middle Sea Race ihre Bahnen ziehen.
„Ein Fels aus weichem Sandstein. Der Felsboden ist mit kaum mehr als drei oder vier Fuss Sand bedeckt. Es gibt keine Quelle, nicht einmal Brunnen. Ein Aufenthalt auf Malta scheint äusserst unangenehm, ja geradezu unerträglich zu sein, besonders im Sommer“, schrieb einst die Johanniterkommission. Als die Ritter des Ordens im Jahr 1530 an den Ufern Maltas anlegten, machte die Insel auf sie keinen guten Eindruck. Die ausgetrocknete, karge Erde, die ungepflegten, ihnen feindlich gesinnten Bewohner – ein buntes Gemisch aus Nachfahren phönizischer, arabischer und normannischer Seefahrer und anderer Vagabunden der Meere, die unverständliches Kauderwelsch brummten – wirkten wenig einladend. Die Ankömmlinge hatten aber keine Wahl. Sie waren von Süleyman dem Prächtigen aus Rhodos vertrieben worden und mussten Karl V. dankbar sein, dass er ihnen den Felsen mitten im Mittelmeer als Zufluchtsort angeboten hatte. Von Ottomanen und Piraten belagert, war Malta der neue Vorposten des Christentums in einem von muslimischen Ufern umgebenen Meer. 1565 schlugen die Ritter des Malteserordens die Armada von Mustafa Pascha in die Flucht und wurden zu Helden eines florierenden Abendlands. Heute halten die Wachtürme auf den Felsen nicht mehr nach türkischen oder barbarischen Segeln Ausschau. Sie wurden durch grosse, weisse Radarkuppeln ersetzt, deren riesige, aufs offene Meer gerichteten Ohren versuchen, die mit illegalen Einwanderern hoffnungslos überfüllten Barkassen auf ihrer Fahrt ins europäische Paradies ausfindig zu machen. In Malta sind es heute nicht mehr die Piraten sondern die illegalen Immigranten, vor denen sich die Malteser fürchten.
Liebhaber grosser Hotels, langer Strände mit in akkuraten Reihen aufgereihten Sonnenschirmen und Nachtschwärmer mit einer Vorliebe für ausschweifende Partynächte bleiben auf der Hauptinsel, um sich dort mit Sonnencreme vollzuschmieren und mit Gin Tonic volllaufen zu lassen. Die anderen nehmen die Fähre nach Gozo, die sie unter einem knallblauen, von Möwen durchzogenen Himmel zum Hafen von Mgarr bringt. An den Molen blinzeln die gelbblauen Buge der Luzzu im frühmorgendlichen Licht. Das auf beiden Seiten der traditionellen Fischerboote aufgemalte Auge soll Unglück abwenden. Im kühlen Schatten einer Fassade kauernd, schlagen untätige Rentner die Zeit mit Tratsch und Fachsimpelei über gestrandete Boote, Fische, leichte Frauen und Dieselmotoren tot. 43 km Felsenküsten, zwischen 23 und 25 Grad warmes Wasser im Sommer, von unzähligen Unterwasserhöhlen durchlöcherte Klippen, senkrecht abfallende Felswände, die sich im unergründlichen Blau verlieren und ein paar auf ideale Tiefe gesunkene Wracks machen Gozo zu einem Art Schlaraffenland für Taucher. Da die Insel weit weg von bevölkerungsreichen Regionen liegt, ist das Wasser zudem von einer unglaublichen Klarheit. Verschont von den Auswüchsen einer allzu starken Besiedlung und von landwirtschaftlichen Schadstoffen, geschützt durch die schwach ausgeprägten Gezeiten und die steinigen Küsten, hat das Meer hier noch seine Jungfräulichkeit behalten. Im Norden und im Westen ragen die Sandsteinfelsen direkt ins Meer. Darunter warten steile Felswände, monumentale oder labyrinthartige Grotten, dunkle Galerien und Kamine mit zerbrechlichen Kalkablagerungen, geschmückte Überhänge und zu gigantischen Bögen eingefallene Mauern nur darauf, erforscht zu werden.
Während Malta im Zweiten Weltkrieg lange und intensiv bombardiert wurde und entsprechend viele Schiffe (Maorie im Hafen von Marsamxett, Carolita und Odile) und Flugzeuge (Bristol Blenheim am Zonqor Point) vor ihren Küsten gesunken sind, blieb Gozo von deutschen Bombern fast ganz verschont, sodass bis vor wenigen Jahren kein altes Eisen auf Grund lag. Es gab keine Wracks, also sorgte man dafür, dass sich das änderte. Auf Wunsch der Tauchclubs beaufsichtigt die GTA (Gozo Tourism Assocation) seit zwölf Jahren die Versenkung mehrerer Wracks, die zuvor gereinigt und speziell für die Taucher zurechtgemacht wurden. Kabel, Türen und Scheiben wurden entfernt, damit sie sich gefahrlos darin bewegen können. Vor der Südostküste, die vor dem starken Wellengang aus Nordwesten geschützt ist, können in der Bucht Xatt LAhmar die 58-Meter-Fähre Karwela und der 34 Meter lange Minenleger Cominoland betaucht werden. Beide liegen auf hellem, sandigem Grund und haben sich zu regelrechten Unterwasseroasen entwickelt, die unzähligen Tier- und Pflanzenarten Lebensraum bieten. Brandbrassen und Gelbstriemenbrassen umkreisen in einem endlosen Reigen die künstlichen Riffe, Goldstriemen und Meerjunker suchen auf den unter einem dicken braunen Algenmantel verborgenen Rümpfen nach Nahrung, Zackenbarsche scheinen im Schutz der ehemaligen Frachträume Kriegsrat zu halten, während Muränen den Laufgängen entlang patrouillieren. Obwohl die Küstenfischerei bei den Fischbeständen ihren Tribut gefordert hat, begegnet man vor den Felswänden auch heute noch Barrakudaschwärmen und sieht silbern schimmernde Goldbrassen und Zahnbrassen vorbeiziehen. Am eindrücklichsten ist die Artenvielfalt allerdings auf den Plateaus. Dort zeigt sich die kleine Mittelmeerfauna in ihrer ganzen Üppigkeit. Farbenfrohe Meerpfaue huschen vorbei, Goldmaids und Schnauzen-Lippfische drehen diskret ihre Runden und grosse Schwärme Papageienfische flitzen aufgeregt durchs Wasser. Natürlich berichten die alten Fischer von noch viel reichhaltigeren Fischgründen. Vor 30 Jahren eröffnete George Vella im kleinen Badeort Marsalforn eines der ersten Tauchzentren auf Gozo – heute sind es 12, davon sechs allein in Marsalforn. Das am Hafen gelegene Calypso Diving Center ist noch immer in Betrieb. Sein Spruchband „we are not cheap, but neither are you!“ lässt auf den eigenwilligen Charakter des Besitzers schliessen. Etwas wehmütig erinnert sich unser Mann an die grossen Fische, die er hier Ende der 1980er-Jahre noch fand. „Ich habe erlebt, wie Fischer im Hafen 25 bis 50 kg schwere Zackenbarsche fingen. Als die Italiener begannen, im Sommer mit ihren Kompressoren und Tauchflaschen zu jagen und den Fang an die Restaurants zu verkaufen, nahmen die Bestände rasant ab.
Das Fischen mit Tauchgeräten wurde erst vor rund zehn Jahren verboten. Ich habe bereits 1987 ein dreijähriges Moratorium für alle Formen der Fischerei gefordert, wenigstens in bestimmten Zonen vor der stark betauchten Nordküste. Bisher wurde ich aber nicht erhört.“ Vielleicht hat sich der Wind aber mittlerweile gedreht. Seit fünf, sechs Jahren beobachtet George nämlich wieder grosse Barrakudaschwärme. Malta war eines der ersten Mittelmeerländer, die das Fishfarming eingeführt haben. Dabei werden Jungfische wie Thunfische, Goldbrassen und Wolfsbarsche gezüchtet und in Käfigen, die einige Seemeilen vor den Küsten installiert werden, grossgezogen. Der Fernsehproduzent Emi Farrugia taucht seit 1976 und ortet gelegentlich auch Wracks. Er hatte 2005 die etwas verrückte Idee, einen Käfig mit einem Durchmesser von 100 m ins Meer zu lassen, in dem die Taucher mit den grossen, im Mittelmeer heimischen Fischen in Kontakt kommen. „Da wir in Malta nicht sehr viele grosse Fische haben, wollte ich den Tauchern die Garantie bieten, dass sie nicht nur Höhlen und Wracks sehen!“, sagt er über sein Projekt. Zunächst kaufte er bei einem Fischer 300 Thunfische, doch die Behörden verweigerten ihm die Genehmigung für seinen Marine Adventure Park. Emi liess sich nicht entmutigen, steckte die Thunfische in einen Käfig und organisiert heute einen der ungewöhnlichsten Tauchgänge im ganzen Mittelmeer. Der „Käfig“ ist nämlich ein kreisrunder Park von 50 m Durchmesser, der mit einem Netz umgeben ist, das sich in 35 m Tiefe schliesst. Man muss sich nur von oben in den Park gleiten lassen und sich zum Tanz der Thunfische gesellen, die im Käfig hinund herschwimmen. Hier werden rund tausend Exemplare der grössten Thunfischart, dem Thunnus thynnuns oder Roten Thunfisch, für den Verkauf grossgezogen. Die riesigen Meeresbewohner beeindrucken nicht nur durch ihre Ausmasse – sie erreichen 2 bis 2,50 m Länge –, sondern auch durch ihr Gewicht. Unglaubliche 300 kg bringen die grössten auf die Waage. Nur einmal am Tag wird das fröhliche Treiben gestört. Zur Fütterungszeit wird ein grosser Sack mit aufgetauten Sardinen ein bis zwei Meter unter die Meeresfläche hinuntergelassen. Gierig stürzen sich die Giganten auf ihr Essen, das durch eine Öffnung in einem nicht abreissenden Strom aus dem Sack gespült wird. Sogar die abgeklärtesten Taucher bekommen hier etwas geboten, das sie sich so nicht hätten vorstellen können. Sie brauchen nur eine Minute unter dem Sack zu verharren, während die Thunfische pfeilschnell in die Höhe schnellen, um die Sardinen zu schlucken. Vergessen Sie Achterbahnen und Tiroliennes. Der Thunkäfig ist der ultimative Ort für Adrenalinsüchtige. Der Zusammenstoss mit den hungrigen Fischen scheint unvermeidlich, so zahlreich und scheinbar chaotisch schnellen sie durchs Wasser. Doch trotz Getümmel berührt, geschweige denn verletzt keiner der Formel-1-Geschosse des Meeres die Taucher, viel zu präzise sind ihre Bahnen. Es heisst, Gozo sei das antike Ogyvia, jene paradiesische Insel, auf der die Meeresnymphe Kalypso den schiffbrüchigen Odysseus sieben Jahre lang festhielt. Inspiriert vom wohl berühmtesten Helden der griechischen Mythologie stellt sich der Taucher vor, wie er sieben Jahre vor Gozo taucht.
® Christophe Migeon