Fotos | Bertrand Duquenne
Im äussersten Westen Kanadas, zwischen den Columbia Mountains und Vancouver Island, liegt die Strasse von Georgia. Die lange Wasserstrasse des Pazifischen Ozeans hat etwas Faszinierendes, dem man sich nicht entziehen kann. Wir haben uns mit einem Charterboot ins das Land der Waldläufer vorgewagt.
Alle Sinne sind geschärft. Mit höchster Aufmerksamkeit und widersprüchlichen Gefühlen wagen wir nach der Ankunft die ersten paar Schritte. Einerseits geben wir uns genüsslich der Betrachtung der Umgebung hin, andererseits mahnen wir uns zu der so überlebenswichtigen Vorsicht. Ein sanftes Licht durchbricht die Dunstschwaden über der einsamen Bucht von Squirrel Cove mitten im Indianerreservat. In dieser frühen Morgenstunde scheint alles friedlich. Ein Bach fliesst mit monotonem Plätschern durch sein Kiesbett, während einzelne Reiher gemächlich ihr Federkleid schütteln. Ein salziger, mit typischen Waldgerüchen gemischter Meeresduft liegt in der Luft. Wir lassen ihn auf uns wirken und saugen ihn regelrecht auf. Gleichzeitig sind wir auf der Hut, beobachten aufmerksam die Umgebung und fühlen den beruhigenden Druck der Leuchtpistole in der Bauchtasche des Segelhemds.
Zu dieser Vorsichtsmassnahme hat uns unsere Skipperin und Reiseführerin Agathe geraten. Als sie gestern Abend beim Anlegen bemerkte, welche Faszination die Uferregion auf uns ausübte, dachte sie sich, dass ihre beiden Weggefährten schon im Morgengrauen aufbrechen würden, um mit dem Beiboot aufs Festland zu fahren und den kanadischen Wald zu durchforschen. „Vorsicht! Dieser Bach ist voller Lachse und deshalb ein gefundenes Fressen für Schwarzbären!“, warnte sie uns und trichterte uns ein, uns vor diesen neugierigen, aber irritierbaren Raubtieren in Acht zu nehmen.
Kaum haben wir uns ein paar vorsichtige Schritte ins taufrische Unterholz vorgewagt, bewahrheitet sich Agathes Vorahnung. Deutlich erkennen wir frische Bärenspuren auf unserem Weg. Wir haben die Warnung verstanden. Wir wollten die Wildnis des kanadischen Westens erfahren und wurden nicht enttäuscht.
Kapitänin Agathe
Dass unser Törn zu einem solch unvergesslichen Erlebnis geworden ist, verdanken wir unserer liebenswürdigen Skipperin, die diese grossartige Region seit 25 Jahren kennt und liebt. Schon die Anreise bis zu ihrem Zuhause war ein Abenteuer. Ein kleines Wasserflugzeug flog uns aus dem modernen, quirligen Vancouver auf die bescheidene, geheime Insel Gabriola. Gelandet wurde in der Sylvia Bay inmitten von Ankerplätzen. Dort wartete ein Boot, das uns an Land brachte, bevor unsere Reise mit einem Allradfahrzeug weiterging.
Agatha empfing uns herzlich und lächelnd und umarmte uns zur Begrüssung. Wir wussten sofort: Das war der Anfang einer Freundschaft. Die willensstarke, draufgängerische Frau zeigte uns ihre Welt: die Salish Sea zwischen Kanada und den USA, und insbesondere die Strasse von Georgia. Sie öffnete uns ihr mitten in der Natur gelegenes Haus und machte uns mit Georgette, der Miteignerin der Free Spirit, bekannt.
Die Spencer 44 aus dem Jahr 1973 hat bereits mehrmals die Welt umsegelt. Sie ist solide und sicher und wird, wenn alles läuft wie geplant, in einem oder zwei Jahren mit den beiden Kanadierinnen an Bord zu einer Reise um den Pazifik aufbrechen. Davor bringt sie uns aber zu einer langgezogenen Inselgruppe vor der Südwestküste von Vancouver Island, zwischen Victoria und Nanaimo. Valdès, Galiano, Penelakut, Salt Springs – diese Namen klingen wie eine verteufelte Mischung aus Urvölkern und englischen und spanischen Entdeckern.
Die allesamt bewaldeten Inseln im Golf strahlen etwas Liebliches aus. In der dichten Vegetation sind kleine Dörfer zu erkennen. Dazwischen liegt ein weitläufiges Törnrevier mit unzähligen Ankermöglichkeiten. So früh im Herbst kreuzen wir trotz strahlend schönem Wetter kaum ein anderes Segelboot. Gemütliches Segeln in einem geschützten Meer ist angesagt.
Ganz ohne Gefahren ist es aber nicht. Abgesehen von einer umgekehrten Betonnung und 10 °C kaltem Wasser im Sommer („eine Minute, um nach dem Kälteschock wieder zu atmen, ansonsten ertrinkst du, zehn Minuten, um sich wieder ins Boot zu hieven, bevor die Glieder steif werden, und eine Stunde passives Überleben“, mahnt uns Agathe, die ihre Rettungsweste nie auszieht), muss in gewissen Engpässen mit bis zu acht Knoten starken Strömungen und vor allem mit Schwemmholz gerechnet werden.
Ganze Baumstämme schwimmen in der Strasse von Georgia – eine Plage! Sie lösen sich von grossen Holzflössen, die von Tugboats gezogen werden, und treiben herrenlos in grosser Anzahl durch die Meerenge. Am gefürchtetsten sind die „Dead Heads“, denn sie haben so viel Wasser aufgesaugt, dass sie senkrecht schwimmen und ihre Spitze nur knapp oder gar nicht über die Wasseroberfläche ragt. Da nützt auch die grösste Aufmerksamkeit nichts!
Kanadischer Far West
Wir ziehen weiter durch das Insellabyrinth Richtung Süden bis zur schönen Victoria. Ein wenige Seemeilen kleiner Sprung und wird sind in amerikanischen Gewässern. Diese letzte Etappe hätte an sich schon ein hervorragendes Programm abgegeben, aber Agathe hat anderes vor. Sie will zum wilden Desolation Sound. Um zu diesem bei lokalen Freizeitseglern beliebten Sound zu gelangen, müssen wir von der Free Spirit auf die Edge of Moonlight wechseln. Die komfortable Island Pocket 380 ist in Comox auf Vancouver Island stationiert. Weit nördlich von Gabriola steigen wir in ein Auto um, denn die Anfahrt ist nur über Land möglich. Für uns eine schöne Gelegenheit, die Atmosphäre des kanadischen Westens zu spüren. Riesige Wälder, ein paar seltene Siedlungen, Indianerreservate, eindrückliche Totempfähle mit fantastischen Darstellungen, hünenhafte und bis zu den Wolken ragende Douglastannen säumen unsere Fahrt über die endlosen Strassen. Bei einem Zwischenhalt sehen wir in einem Fluss sogar wandernde Lachse. Ein spannendes Intermezzo auf einer authentischen Insel, auf der sich der Mensch vernünftig in eine überdimensionierte Natur integriert hat.
Als Ersatz für die sanfte und zurückhaltende Georgette stösst Keith zu uns. Dem gebürtigen Engländer, aber „Kanadier im Herzen“, wie er mit Nachdruck betont, gehört die Edge of Moonlight. Wie für uns ist es auch für ihn das erste Mal, dass er den Desolation Sound besucht.
Meerestrekking
Obwohl der Desolation Sound nur 25 Seemeilen von Comox entfernt liegt, machen wir einen grossen Sprung in die Wildnis. Der von den Discovery Islands gesäumte Fjord ist ein Meeresschutzgebiet. Er dringt weit ins Land hinein, bis zu den Columbia Mountains, und zaubert ein grandioses Panorama. Meer und Berge sind ineinander verflochten, bilden ein Labyrinth aus Winkeln, Schleifen und sich ständig verändernden Perspektiven. Unser Schiff bahnt sich einen Weg durch Schluchten und Durchgänge, die uns den Weg durch die mal steinerne, mal pflanzenbewachsene Wildnis weisen. Nach jeder Biegung erscheint in der Ferne ein neuer Gipfel, der sich unserem Anblick vorher entzogen hatte. Unser Törn nimmt Züge einer Bergwanderung an.
Dieser berauschende Eindruck wird an den Ankerplätzen in den meist menschenleeren Buchten noch verstärkt. Wie könnte man dem Charme von Cassel Lake und seinem Wasserfall, der nur eine Kabellänge von uns entfernt in die Tiefe rauscht, von Squirrel Cove und seinem Binnensee, von Roscoe Bay, das einem Kessel gleicht und nur bei Flut durch einen engen Zugang erreichbar ist, nicht erliegen? Und überall herrscht absolute Stille. Sterne leuchten in der rabenschwarzen Nacht und spiegeln sich im völlig glatten Wasser. In dieser verwinkelten Gegend gibt es keine Strömung. Es ist ein un gewohntes Gefühl, das verankerte Beiboot am Morgen genau an der gleichen Stelle wiederzufinden oder eine ausgedehnte Essenspause einzulegen, ohne den Anker zu werfen.
Wir dringen immer weiter in den Desolation Sound vor und bewundern sprachlos das überwältigende Naturspektakel. In jeder Bucht begegnen wir heimischen Tieren: einer einsamen Robbe, einer Bande Seelöwen oder einer fröhlichen Seeotter-Familie, während uns von den Baumkronen Fischadler beobachten. Bei unseren Landgängen lassen wir grösste Sorgfalt walten, denn in den dichten Wäldern der Inseln tummeln sich Berglöwen, Vielfrasse und Schwarzbären, denen wir lieber nicht über den Weg laufen.
Agathe möchte unsere Erkundungsreise noch etwas weiter treiben. Wir verlassen den Desolation Sound und segeln in den Hornfray Channel. Hier beginnt ein neues Gebiet, das Toba Inlet. Der schmale, langgezogene Fjord ragt weit in die wilden Berge hinein, mitten ins Reich des scheuen Grizzly. Der Ruf des Waldes ist nirgends so deutlich zu spüren wie hier. Sie können mir glauben: Am Ende dieses Törns das Ruder um 180 Grad zu schwenken, kostete unglaublich viel Überwindung!