Text | Quentin Mayerat
Fotos | Yoann Lelièvre
Im August organisieren die Mitglieder des Cercle de la Voile der Genfer Société Nautique (SNG) die Croisière Eynard schon zum 100. Mal. Sie ist kein x-beliebiger Clubanlass, denn sie hat die Geschichte der Freizeitseglerei auf dem Genfersee entscheidend mitgeprägt.
Wie jedes Jahr seit 100 Jahren wird bei der Boje gegenüber dem Anwesen Fleur d’Eau in Rolle die Flagge der Familie Eynard gehisst, wenn die Mitglieder des Cercle de la Voile der Genfer Société Nautique hier vorbeisegeln. Die frühere Residenz dieser grossen Genfer Familie liegt in Erinnerung an Léopold Eynard, einem Vorreiter der Freizeitseglerei auf dem Genfersee, traditionsgemäss an der Strecke der Croisière Eynard. Dabei umrunden je nach Jahr 20 bis 30 Boote den Genfersee in sieben Etappen, in diesem Jubiläumsjahr sind es sogar neun. Im letzten Jahrhundert war die sommerliche Parade unter Segeln für viele SNGMitglieder zu einem festen Termin im Regattakalender geworden. Wer etwas auf sich hielt, nahm an diesem Gesellschaftsereignis aus Regatten, gemütlichen Ausfahrten und Partys teil. Das ist auch heute noch so. Was aber nur wenige wissen: Die Croisière Eynard hat massgeblich zur Entwicklung der Freizeitseglerei auf dem See beigetragen. Noch erstaunlicher ist die Erkenntnis, dass der Schweizer Segelsport eher aus einer Feier als aus nautischer Kultur entstanden ist.
„Zweck der Croisière Eynard ist natürlich das Segeln, die Teilnehmer sollen aber auch Spass haben und Gelegenheit erhalten, sich zu treffen“, sagt der amtierende Commodore Daniel Straumann. Die Regatta verkörpert noch immer den Grundgedanken des Segelsports, der sich als Gesellschaftsanlass und festliches Zusammenkommen versteht.
Kultivierte Dekadenz und Volksfeste
Ein Rückblick auf das sittenstrenge protestantische Genf des 18. und 19. Jahrhundert zeigt, dass die Gelegenheiten zum Schlemmen ausserhalb der religiösen Feste dünn gesät waren. Die einzigen erlaubten heidnischen Feste waren die Armbrustschiessübungen und das Segelfest. Dabei versammelte sich das Volk am See, um Sportturnieren und Shows zuzuschauen, die meist in einem erinnungswürdigen Gelage endeten. Marianne Chevassus, die stellvertrende Kuratorin des Musée du Léman in Nyon, erklärt: „Nach dem Beitritt von Genf zur Eidgenossenschaft im Jahr 1815 verlor die Miliz, die diese Schiessübungen veranstaltete, etwas an Dynamik und auch die Feste lockten nicht mehr die Massen an. Nostalgiker dieses Anlasses, an denen Barken, Brigantinen und manchmal mehrere hundert beflaggte Kahne teilnahmen, schlossen sich je nach Affinität, aber vor allem nach sozialer Klasse zu Clubs zusammen. So entstand 1848 die Nana in Ouchy und 1872 die Société de Navigation de Genève.“ Der Gedanke an einen sozialen Zusammenschluss spielte bestimmt auch bei Léopold Eynards Entscheidung, aus der Société Nautique Rolloise auszutreten und 1902 zusammen mit Pictet de Rochemont, Martin du Pan, Tronchain und weiteren Freunden den Cercle de la Voile der SNG zu gründen, eine nicht unwesentliche Rolle. Der Club diente nämlich nicht nur dem Wassersport, sondern förderte auch das gesellige Beisammensein. Heute, 100 Jahre später, hält die Croisière Eynard an ihrem Anspruch als Gesellschaftsereignis fest. „Sie ist ein fröhlicher Familienanlass, der bei den Clubmitgliedern für Zusammenhalt sorgt und an dem mehrere Generationen miteinander in Kontakt kommen“, bestätigt Daniel Staumann. Aus zuverlässiger Quelle wissen wir, dass hier sogar mehrere Teilnehmer ihre bessere Hälfte gefunden haben!
Das Aufkommen der Freizeitseglerei auf unseren Seen sei aber nicht einzig und allein den Segelfesten zu verdanken, wirft Marianne Chevassus ein. „Das Mitwirken der ausländischen Aristokratie und die Organisation der ersten Tour du Lac durch Léopold Eynard haben ebenfalls dazu beigetragen.“
Romantik an der Bol d’Or
Zu Zeiten von Léopold Eynard mochte das Vorhaben, einmal um den See zu segeln, leichtsinnig erscheinen. Die Boote waren schlicht nicht für den zeitweise doch sehr ungestümen und unvorhersehbaren See gemacht. Eynards erstes Segelschiff, die Ondine, eine mit 30 m2 Segelfläche doch sehr übertuchte Barke mit einem lediglich 30 Zentimeter kurzen Kiel, machte da keine Ausnahme. Das erste Mal wurde ein Törn auf dem Genfersee allerdings schon viel früher erwähnt und zwar durch Mary Shelley, die Autorin von Frankenstein und Der moderne Prometheus, und ihren Freund Lord Byron. In der Romantik des frühen 19. Jahrhunderts wurde die Rückkehr des Menschen zur Natur gepredigt und Ausfahrten auf dem See passten gut zu dieser Lebenseinstellung. Sie inspirierte nicht nur die Künste, sondern lud auch zur Meditation ein.
Die Freude am Segeln wurde den reichen Genfern also von einer fremden Aristokratie vermittelt. Sie stammte vornehmlich aus Ländern mit starker Seefahrertradition wie Grossbritannien oder Holland. Glaubt man dem Buch, das die Société Nautique Rolloise im Jahr 1956 zum 75. Geburtstag des Clubs herausgegeben hat, verfiel Léopold dem Segeln schon als kleiner Junge. Im zarten Alter von acht Jahren sah man ihn in einer Wanne und mit geöffnetem Regenschirm auf dem See. Ein paar Jahre später war der mittlerweile erfahrene Segler der festen Überzeugung, dass der Segelsport nur mit einer aufsehenerregenden Aktion gefördert werden könne. Die Idee der ersten Tour du Lac war geboren. Zur Erstaustragung im Jahr 1916 setzte Eynard ein Preisgeld von 1000 Franken aus – damals ein kleines Vermögen. Viele Zeitgenossen hielten ihn für einen Spinner, die ansehnliche Summe liess die Herren von Genf dann aber umdenken. Zahlreich fanden sie sich mit ihren Vollblütern am Start ein. 30er Schärenkreuzer, Hoccos, Lacustres, 6er, 6,5er, 8,5er, 12er und viele andere rasante und elegante Boote sorgten an den einzelnen Etappen für Furore und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Verbreitung der Freizeitseglerei. Bezeichnenderweise entstanden zur Zeit der ersten Croisières Eynard rund um den Genfersee zahlreiche Segelvereine: 1916 die Société nautique von Morges, 1917 die von Vevey, 1919 der Cercle de la Voile von Lausanne und 1921 die Société Nautique du Léman Français.
Parallel dazu nahm die Handelsschifffahrt allmählich ab und wurde von der Freizeitschiffahrt abgelöst. Die Boote entwickelten sich weiter und wurden seetüchtiger. 1939 schliesslich fand zum ersten Mal die Bol d’Or statt, die noch heute das grösste Genferseefest ist.
2016 jährt sich die Croisière Eynard zum 100. Mal. Getreu der Philosophie des Anlasses steht die Jubiläumsfeier ganz im Zeichen des fairen, ungezwungenen Wettstreits zwischen Gentlemen. Wahrscheinlich wird der Commodore auch dieses Jahr nicht darum herumkommen, den einen oder anderen allzu ausgelassenen Gast etwas zu bremsen. Wie vor ein paar Jahren, als eine Gruppe junger Teilnehmer auf den Peizl-Turm geklettert war, um die Flagge zu entwenden. Der Commodore soll sie auf seinem Bett wiedergefunden haben.