In einem Punkt ist man sich einig: Treten an Regatten Schiffe mit eindeutig unterschiedlichem Leistungspotenzial gegeneinander an, braucht es ein Wertungssystem, das diese Unterschiede berücksichtigt. Nach welchem Verfahren dieses System aber konkret funktionieren und wie es justiert werden soll, darüber scheiden sich seit je her die Geister. Ein Blick in die Vergangenheit macht die in der Schweiz historisch gewachsenen Schwierigkeiten deutlich, hilft aber auch bei der Beurteilung möglicher Lösungen.
Das älteste und wohl am einfachsten zu handhabende Ausgleichssystem ist das Yardstick-System. Dabei wird jedem Boot aufgrund von Erfahrungswerten eine Yardstickzahl zugesprochen, die für die Wertung mit der tatsächlich gesegelten Zeit verrechnet wird. An Clubregatten und kleineren Anlässen ist dieses System weit verbreitet, steht aber im Ruf sehr ungenau zu sein.
In der Schweiz hat man sich daher schon Ende der 60er-Jahre auf die Suche nach Alternativen gemacht. 1967 wurde am Genfersee die „Association des propriétaires de bateaux de croisière“ (ABC) gegründet und die ABC-Ausgleichsformel entwickelt, deren Grundelemente der englischen RORC-Formel entlehnt wurden. Damit stand erstmals eine Formel zur Verfügung, die indirekt auch die Windstärke berücksichtigt. Das System kam relativ rasch auch in der Deutschschweiz zur Anwendung, weshalb 1978 die Schweizerische ABC-Klassenvereinigung gegründet wurde, deren Regionalflotten die ständig verbesserte Formel weiter verbreiteten.
ORC Club als Befreiungsschlag
Der grosse Rückschlag liess aber nicht lange auf sich warten. Am Genfersee und an einzelnen Juraseen entschloss man sich 1990, auf ein Ausgleichssystem zu verzichten, wodurch die ansässigen ABC-Regionalflotten inaktiv wurden. In der Deutschschweiz versuchte man zunächst, sich nicht von dieser Entwicklung beirren zu lassen, wurde aber immer häufiger mit Kritik an der eigenen Formel konfrontiert. Die internationale Einführung von ORC Club war daher eine willkommene Gelegenheit für einen Befreiungsschlag. 1998 beschloss die Schweizer Kreuzer Regattavereinigung (ABC) deshalb, die ABC-Formel zugunsten des als moderner erachteten internationalen Systems fallen zu lassen.
Ausgehend vom Zürichsee kam ORC Club bald an weiteren Seen wie dem Bodensee oder dem Vierwaldstättersee zur Anwendung. Der alten ABC-Formel blieb man nur auf dem Hallwilersee treu. Doch so wirklich anfreunden konnte man sich mit dem neuen internationalen Ausgleichssystem in keinem Revier. Am Bodensee etwa werden nur wenige Regatten nach ORC Club gewertet, stattdessen greift man trotz einer gewissen Unzufriedenheit auf die altbewährten Yardstickzahlen zurück. Und beim Vierwaldstättersee-Cup wird ab diesem Jahr wieder eine Yardstick-Kreuzerklasse eingeführt, nachdem einige der schnellsten Boote seit längerem wieder in der Offenen Yardstick-Klasse starten.
Zürcher vermittelt zwischen Ost und West
Georg Pfurtscheller, aktiver Segler und Regatteur auf dem Zürichsee, dem Bodensee und dem Meer und Präsident der ABC-Regionalflotte Zürichsee, sieht die Gründe für die Skepsis gegenüber ORC Club auf praktischer, finanzieller und technischer Ebene: „Die ORC-Formel wurde für Regatten auf dem Meer gemacht und funktioniert bei den Bedingungen auf unseren Seen nicht optimal. Viele Segler sind auch nicht bereit, die relativ hohen Tarife für eine ORC-Vermessung und die jährlichen Messbriefgebühren von 80 Franken zu bezahlen und die Regattaorganisatoren beschweren sich über die umständliche Handhabung des Systems.“
Doch Pfurtscheller glaubt nicht nur die Probleme von ORC Club zu kennen, er sieht für den Bodensee auch eine ganz konkrete, wenn auch radikale Lösung, die in seinen Augen am Genfersee zu finden ist. Dort haben regionale Spezialisten des ACVL, der Vereinigung der Genfer Segelclubs, mit dem SRS-System in den 90er-Jahren ein System entwickelt, das mittlerweile weit verbreitet ist und heute eine hohe Genauigkeit aufweist. Um die 800 Schiffe sind momentan als aktiv registriert und nochmal so viele können jederzeit wieder aus dem „Schlaf“ geweckt werden. Bei ORC Club hingegen sind schweizweit nur etwa 250 Messbriefe im Umlauf.
Georg Pfurtschneller spielt nun den Vermittler, um das SRS-System an den Bodensee zu exportieren. Die Gespräche laufen und beidseitiges Interesse besteht, doch der Inhaber eines auf Hochgeschwindigkeitsdatennetze spezialisierten Unternehmens weiss, dass für eine weitreichende Akzeptanz gewisse Anpassungen nötig sind: „SRS ist kostengünstig, auf Schweizer Binnenverhältnisse zugeschnitten und die Handhabung stark mit dem Internet verknüpft. Für den Bodensee sind neben einer kompletten Übersetzung der Webseite auch Weiterentwicklungen im IT-Bereich nötig, denn das System muss absolut transparent sein und wirklich von jedem Regattaleiter problemlos gehandhabt werden können.“
Vision einer gesamtschweizerischen Lösung
Gewisse Schwierigkeiten sieht Georg Pfurtscheller auch bei der Mitsprache und Nachhaltigkeit: „Die Verantwortlichen des ACVL leisten wirklich grossartige Arbeit, aber irgendwann stellt sich die Frage nach Kontinuität. Da besteht die Gefahr, dass sehr viel Know-how verloren geht.“ Längerfristig schwebt dem Zürcher daher eine gesamtschweizerische Lösung unter der Verwaltung von Swiss Sailing vor. Präsident Roger Staub habe bei einem Gespräch auch schon grundsätzliches Interesse angemeldet, auch wenn sich der Verband offiziell zurückhaltend gibt. Eine Haltung, die verständlich erscheint, wenn man bedenkt, dass Swiss Sailing ORC Club erst 2002 zum offiziellen Ausgleichssystem ernannt hat. Ausserdem stehen Pfurtschellers Vision die gegenseitigen Animositäten zwischen dem Landesverband und der Westschweizer Segelszene im Weg. Es erscheint mehr als fraglich, ob man beim ACVL tatsächlich bereit wäre, Unabhängigkeit und Entscheidungshoheit zugunsten einer Lösung abzugeben, von der hauptsächlich Deutschschweizer Segler profitieren, bei der man selbst aber verstärkt an den ungeliebten Landesverband gebunden wäre.
Der Vorschlag aus Zürich hat auf dem Weg vom Denkanstoss zur tatsächlichen Realisierung also noch viele Hürden zu überwinden. Fallen lassen sollte man Pfurtschellers Idee deshalb aber nicht. Dazu klingt die Vorstellung, mit einer gesamtschweizerischen Lösung endlich Ordnung ins Chaos der Messbriefe und Ausgleichssysteme zu bringen, einfach zu vielversprechend.