Vendée Globe
Die schnellste Frau der Vendée Globe wurde in Les Sables d’Olonne von Tausenden von Zuschauern empfangen. Sozusagen als Schlussbouquet schob sie eine Windböe ins Ziel.
«Gut möglich, dass sie dieses Mal weint», mutmasste Catherine Chabaud zwei Stunden, bevor Justine Mettraux in den Kanal von Les Sables d’Olonne einlief. Die erste Frau, der es 1997 gelang, die Vendée Globe zu Ende zu segeln, lag mit ihrer Vermutung falsch. Erschöpft und doch strahlend behielt Justine ihre Emotionen während der gesamten Ankunftszeremonie unter Kontrolle. Alles scheint perfekt an diesem 25. Januar. Die Sonne bricht durch die Wolkendecke und beleuchtet das Menschenmeer. Tausende Zuschauer sind gekommen, um die erste der sechs gestarteten Frauen gebührend zu empfangen. Justine überquert die Ziellinie als 8. und stellt mit 76 Tagen, 1 Stunde, 36 Minuten und 52 Sekunden einen neuen Rekord auf. So schnell war vor ihr noch keine Frau gewesen. Justine machte es spannend bis zum Schluss. Die letzten 24 Stunden segelte sie mit einem zerrissenen Gross, Sam Goodchild lag ihr dicht auf den Fersen. Bei stürmischen Bedingungen schaffte es
die Genferin vor dem Briten über die Linie, doch die Tortur war noch nicht vorbei.
Sie musste ihre letzten Reserven mobilisieren, um den Kanal vor 15.30 Uhr zu erreichen. «Ich hatte keine Ahnung, wann ich in den Hafen einfahren durfte, ich war auf die Ziellinie fokussiert», gestand sie später. Ihr Team greift ein, springt an Bord und nimmt die Sache in die Hand. Justine bedankt sich mit einem grossen Transparent, das sie im Kanal hochhält. «Thank’s to my Team» steht darauf. Im Hafen warten unzählige Schweizer Fans. Jubelnd schwenken sie rote Fahnen mit weissem Kreuz. Auch Philippe Rey-Gorrez, Chef von eamWork und Partner der ersten Stunde, ist auf dem Boot: «Im Kanal herrschte eine unglaubliche Euphorie», erzählt er. «Wir hatten alle ein flaues Gefühl im Magen und sind emotional an unsere Grenzen gestossen. Die Tränen standen uns in den Augen.» Elodie-Jane und Laurane waren ebenfalls vor Ort. Sie haben ihre Schwester in schwierigen Zeiten stets aus der Ferne unterstützt. Als Teenager verschlangen sie gemeinsam die Bücher von Ellen MacArthur. Mit ihrer Zeit an der Vendée Globe ist Justine Mettraux der Bestmarke von 71 Tagen, die Ellen MacArthur im
Jahr 2005 an der Jules Verne Trophy aufgestellt hat, sehr nahe gekommen.
Es ist 16 Uhr, Justine hat wieder festen Boden unter den Füssen. Sie steht vor einer Wand aus Mikrofonen und Kameras. «Ich weiss nicht, ob ich verändert zurückgekommen bin. Aber wenn man so viel Zeit auf dem Meer verbringt, erlebt man unglaublich viel», sagt die Seglerin, die sonst nur wenig von sich preisgibt. Sie kommt dann auch sofort auf sportliche Aspekte zu sprechen: «Ich habe Fortschritte bei der Bootsbeherrschung, der Strategie und den Reparaturen gemacht, was sonst nicht meine Stärken sind. Und ich habe viel Erfahrung gesammelt.» Mehr Persönliches verrät Justine nicht. An Land verhält sie sich wie auf dem Wasser: Unbeirrt zieht sie ihr Ding durch. Das Ende des Rennens war hart. «Nicht jeder Skipper erlebt die Vendée Globe gleich», weiss Renndirektor Hubert Lemonnier. Eine Aussage, die auf die Atlantikfahrt von Justine Mettraux’ Gruppe passt wie die Faust aufs Auge.
Es war ein Martyrium. Wenige Tage vor dem Ziel erlebte Justine «die stürmischsten Bedingungen der Regatta.» Sie segelte im aufgewühlten Wellenmeer praktisch ausschliesslich am Wind. Auch technisch war die Solo-Weltumsegelung kein Zuckerschlecken. Die älteste IMOCA unter den Top 10 schonte ihre Skipperin nicht. Ohne ihre beiden Antennen am Mast orientierte sich Justine teilweise mit dem Kompass. Manchmal rechnete der Autopilot die Winddreher nicht ein. Zu allem Überfluss war das Ruderblatt seit dem 24. November in der unteren Position blockiert. Dies erhöhte nicht nur die Reibung, sondern auch die Gefahr von Kollisionen mit Treibgut. 17 Uhr. Justine und Sam Goodchild geben das traditionelle Interview auf der Bühne im Regattadorf. An der Ehrenmole werden die TeamWork und die Team SNEF mit doppelten Leinen festgemacht. In Les Sables d’Olonne wird ein heftiger Sturm erwartet. Eine Stunde später kommt Justine in den Presseraum, um den Hamburger zu essen, den sie bei der Organisation bestellt hat. Ihre erste Mahlzeit an Land. Sie hat gerade die mentalen und körperlichen Tests erfolgreich hinter sich gebracht. Ein Stockwerk höher fegen die ersten Sturmböen über die Terrasse. Vincent Riou, Sieger der Vendée Globe 2004, erinnert sich an die junge Praktikantin aus dem Ausbildungszentrum in Port-la-Forêt. Sie sei ihm als «sehr ernsthaftes, leidenschaftliches und zielstrebiges Mädchen» aufgefallen.
Einen ähnlichen Eindruck hinterliess sie bei Alain Gautier. Er nahm mit ihr an einer Regatta im Figaro teil. «Sie kämpfte um jeden Zentimeter», erzählt der Sieger von 1993. Isabelle Autissier, die erste Frau, die die Welt einhand umsegelte, ist zur Zieleinfahrt nach Les Sables d’Olonne gereist. «Sie ist eine grossartige Seglerin», sagt sie über Justine. «Sie hat viel Erfahrung und ist trotzdem nicht abgehoben. Und sie ist sehr konzentriert und sehr ruhig.»
EUPHORIE. WIR HATTEN ALLE EIN FLAUES GEFÜHL IM MAGEN.» ©Anne Beauge
19 Uhr. Der angekündigte Sturm ist stärker als erwartet. Er hat das Regattadorf verwüstet. Werbetafeln fliegen durch die Luft, die Zuschauer werden evakuiert. Mit vereinten Kräften ziehen die Teams die IMOCA von den Stegen.
VERÄNDERT ZURÜCKGEKOM-
MEN BIN. ABER WENN MAN
SO VIEL ZEIT AUF DEM MEER
VERBRINGT, ERLEBT MAN
UNGLAUBLICH VIEL.» ©LloydImages
FREUNDINNEN EUPHORISCH BEGRÜSST. ©LloydImages
Die Biskaya, die sie kurz zuvor noch gnädig passieren liess, begrüsst die Geburt eines Seesterns auf ihre Weise.