Lionel Fontannaz, Meteorologe bei Meteo Schweiz, erklärt der Leserschaft von Skippers die Wettererscheinungen und Windsysteme, die das Segeln auf den Schweizer Seen beeinflussen. Nach der Thermik und dem Föhn erläutert er im dritten Teil den Einfluss des Rückseitenwetters.
Text: Lionel Fontannaz
Die Temperaturunterschiede zwischen den Seen und den vorbeiziehenden Luftmassen können spezielle Wetterphänomene auslösen, insbesondere nach dem Durchzug einer Kaltfront, dem Rückenseitenwetter. Eines dieser Phänomene ist der sogenannte Lake Snow Effect.
Mechanismus des Rückseitenwetters
Wenn auf ein Tiefdruckgebiet aus Nordwesten oder Westen Polarluft stösst, werden die Luftschichten instabil und es bilden sich Cumulus- oder Cumulonimbus-Wolken. Diese verursachen Schauer, die sich mit Aufhellungen abwechseln. Man spricht in diesem Fall von «Rückseitenwetter».
Warme Luft am Boden, kalte Luft in der Höhe
Tagsüber steigende Bodenbzw. Wassertemperaturen erwärmen die untere Luftschicht, was zu thermischen Aufwinden führt. Dadurch bilden oder vergrössern sich Cumulus- und Cumulonimbus-Wolken. Wenn sich die oberen Luftmassen stark abkühlen, entsteht ein ähnlicher Effekt. Bei beiden Mechanismen sinkt die Lufttemperatur mit zunehmender Höhe und destabilisiert damit die Atmosphäre. Meistens treten die beiden Phänomene gleichzeitig auf und erzeugen so die bekannte Thermik.
Instabiles Wetter auf dem Meer und an Land ist saisonabhängig
Im Winter ist das Rückseitenwetter an Land aufgrund der vernachlässigbaren Erwärmung am Tag im Allgemeinen wenig aktiv, über dem Atlantik und dem Mittelmeer hingegen besonders ausgeprägt. Eine südwärts ziehende Säule aus Polaroder Arktisluft überquert zunehmend wärmere Luft und heizt sich an ihrer Basis mehr und mehr auf. Diese Erwärmung tritt unabhängig von der Tageszeit ein, ist also nicht davon abhängig, ob die Temperaturen tagsüber steigen, und destabilisiert allmählich die gesamte Luftsäule. Als Folge davon entstehen über dem Ozean oft viele Cumulus- und Cumulonimbus-Wolken und es kommt zu Niederschlägen. Sobald sie kältere Landmassen erreichen, schrumpfen die Wolken und die Schauer lassen nach. Auf den Satellitenbildern sieht man deutlich, wie das über dem Ozean und den Meeren aktive Rückseitenwetter bei Erreichen des Festlands abklingt. Je näher der Frühling rückt, desto wärmer werden die Tage und desto stärker kann sich das Rückseitenwetter über dem Festland bemerkbar machen. Bei uns spricht man von Aprilwetter. Die Schauer können dann recht kräftig ausfallen und mit Graupel, Donner und Sturmböen einhergehen.
Lake Snow Effect in Nordamerika
Wie oben erklärt, trägt die aus grossen Wasserflächen wie Meeren und Ozeanen aufsteigende warme Luft erheblich dazu bei, die darüber liegende Luftmasse aus den Polarregionen zu destabilisieren.
Im Winter können Seen eine ähnliche Wirkung haben. Besonders deutlich zeigt sich dies über den Grossen Seen Amerikas, das heisst dem Oberen See, dem Huronsee, dem Michigansee, dem Eriesee und dem Ontariosee. Sie haben zusammen eine Fläche von 246 000 Quadratkilometern, was rund einem Viertel des westlichen Mittelmeers entspricht. Diese riesigen Wassermassen speichern viel Wärme, die das labile Rückseitenwetter im Winter zusätzlich verschärfen. Die Wassertemperatur des Lake Michigan zum Beispiel kann im November noch 10 Grad und im Januar 3 Grad betragen. Wenn Polarluft aus Kanada über die Grossen Seen zieht, wird die untere Schicht erwärmt. Während die Leeseite des Sees wolkenlos bleibt, bilden sich mit der voranschreitenden Kaltluft über dem See immer mehr und zunehmend grosse Cumulus-Wolken. An der Leeseite ist es dann trocken, an der Luvseite hingegen kommt es zu vielen Schauern, die zu grossen Niederschlagsmengen und starkem Schneefall führen können.
Lake Snow Effect in der Schweiz
Unsere Seen sind zwar kleiner als die Great Lakes – der Genfersee umfasst 581 Quadratkilometer und der Bodensee 536 Quadratkilometer –, speichern aber ebenfalls Wärme. Im Februar weisen sie zeitweise noch Temperaturen von rund 7 Grad auf, während die Luft an den Ufern knapp die Nullgradgrenze erreicht. Bei solchen Bedingungen kann sich das durch die Zufuhr von Polarluft verursachte Rückseitenwetter über den Seen lokal stärker bemerkbar machen. Bei Westoder Südwestlage entstehen insbesondere im oberen Seebecken des Genfersees, dem Grand-Lac, Graupelschauer. Wenn die Situation mehrere Stunden andauert, kann der Lake Snow Effect am gleichen Ort zu grösseren Schneefällen führen. Es ist schon vorgekommen, dass durch dieses Phänomen zwischen Lausanne und Vevey 5 bis 15 Zentimeter Neuschnee gefallen sind, die unmittelbare Umgebung hingegen praktisch schneefrei geblieben ist. Bei Nordnordwestströmung hingegen schneit es vor allem zwischen Evian und Saint-Gingolph, da auch die aufsteigende instabile Luft an den Ausläufern der Voralpen eine Rolle spielt.
Der Lake Snow Effect kann jedoch nicht nur im Winter auftreten. Im Sommer zum Beispiel, wenn ein Rückseitenwetter über unsere Seen zieht und die Wassertemperatur bei rund 20 Grad liegt, während das Thermometer an Land 10 bis 12 Grad anzeigt, kann es über dem Bodensee, dem Genfersee und dem Neuenburgersee wiederholt zu Platzregen kommen.
Klimaerwärmung und Anstieg der Wassertemperaturen
In den letzten zehn Jahren ist die Wassertemperatur der Seen um rund 0,4 Grad gestiegen. Gemäss den Klimaszenarien, die von einem Rückgang der Treibhausgasemissionen ausgehen, könnte sie Ende dieses Jahrhunderts 1 Grad höher sein als heute, ohne Rückgang des CO2-Ausstosses gar um 3 bis 4 Grad steigen. Bei einer solchen Erwärmung ist es gut möglich, dass der Lake Snow Effect häufiger und verstärkt auftritt.