Wenn es eine Seglerin aus dem frühen 20. Jahrhundert verdient hat, aus dem Schattendasein zu treten, dann Hermine de Saussure alias Miette. Sie wurde von ihrem Vater, einem ehemaligen Offizier der französischen Marine, ins Segeln eingeführt und organisierte in einer Zeit, in der sich Seefahrerinnen an den Fingern einer Hand abzählen liessen, Frauenexpeditionen auf dem Mittelmeer und dem Atlantik.
Text : Elisabeth Thorens
Miette wird im Jahr 1901 in die angesehene Genfer Familie de Saussure hineingeboren und entpuppt sich früh als aufgewecktes Mädchen. Die Trennung ihrer Eltern neun Jahre später und die Aussenseiterrolle ihres Vaters tragen massgeblich dazu bei, dass sie früh selbstständig wird. Bereits als Kind träumt sie davon, in See zu stechen.
Im Alter von zwölf Jahren lernt Miette in Creux-de-Genthod (GE) Ella Maillart kennen. Die beiden verbindet nicht nur das gleiche Hobby, sondern bald auch eine tiefe Freundschaft. Sie sind oft gemeinsam auf dem Genfersee unterwegs und träumen von einem eigenen Boot, mit dem sie nach Polyne- sien segeln wollen, um dort ihren Traum von einem freien, ungebundenen Leben zu verwirklichen. Ihren Vorbildern Joshua Slocum, Jack London und Alain Gerbault nacheifernd arbeiten sie unermüdlich auf ihr grosses Ziel hin. Wenn sie nicht in Creux ist, lebt Miette in Paris, wo sie viel Zeit mit ihrer Studienfreundin Marthe Oulié verbringt. Sie studieren an der Sorbonne Griechisch und Archäologie, träumen davon, in Griechenland Ausgrabun- gen zu leiten und auf einem eigenen Boot zu segeln.
Miette bildet zusammen mit Ella und Marthe den harten Kern eines Teams, das mit dem Leben auf dem Meer etwas Philosophisches verbindet, eine Suche nach einem tieferen Sinn und einem Mittel, dem Europa der Nachkriegszeit zu entkommen.
Perlette, das ersehnte eigene Boot
Marseille, Ende 1922. Miette und Ella machen das 7,20 Meter kleine Kabinenboot Perlette klar, das Miette gerade gekauft hat. Während sechs Monaten segeln und regattieren sie vor der Côte d’Azur und wagen dann sogar eine Überfahrt nach Korsika. 800 Seemeilen legen sie insgesamt zurück. In Cannes lernen sie Alain Gerbault kennen, der sich auf seine erste Einhand-Atlantiküberquerung vorbereitet. Die Begegnung macht ihnen Mut. Wenn er es allein wagt, dann werden sie es zu zweit erst recht schaffen!
Ella kehrt an Land zurück und die Perlette wird auf dem Dampfer Patris nach Piräus transportiert. Im Dezember 1923 nimmt Miette ihre Freundin Marthe Oulié, die über keinerlei Erfahrung im Segeln verfügt, mit auf einen Törn durch die Ägäis. Als Orientierungshilfe dienen ihnen Karten, ein Kompass, ein Log und ein Handlot, mehr nicht. Sie berechnen die Entfernungen mithilfe eines Stücks Schnur oder dem Saum eines Taschentuchs.
An Land beteiligen sich die jungen Frauen an Ausgrabungen. An der archäologischen Schule in Athen lernt Hermine ihren späteren Ehemann Henri Seyrig kennen. Er macht ihr einen Heiratsantrag, den sie ablehnt. Viel zu sehr hängt sie an ihrem abenteuerlichen und freien Leben. Ein Ehefrauen-Dasein kann sie sich beim besten Willen nicht vorstellen. Im Juli 1924 verkauft Hermine die Perlette. Inzwischen hat sie mit ihr in der Ägäis 1700 Seemeilen zurückgelegt. «Ich war auf mich allein gestellt», schreibt die erschöpfte Miette ihrer Freundin Ella Maillart. Die Erfahrung führt der jungen Kapitänin vor Augen, welch schwierige Aufgabe und wie viel Verantwortung sie sich mit dem Polynesien- Projekt auferlegt.
Bonita oder die Lebensfreude
Sommer 1925. Miette hat sich ein neues Boot gekauft. Fünf junge Frauen und ein junger Mann, darunter Miettes Geschwister Yvonne und Ben, wechseln sich auf den verschiedenen Teilstecken von Marseille nach Athen auf dem motorlosen 11-Meter-Boot Bonita ab. Die fröhliche Truppe absolviert insgesamt 1200 Seemeilen in neun Wochen.
Es sind glückliche, unbeschwerte Tage. Hermine nutzt die Gelegenheit, um Ella und Marthe an Bord zu holen und mit ihnen auf drei- bis viertägigen Überfahrten erste Hochseeerfahrungen zu sammeln. Miette übernimmt die Rolle der Steuerfrau, tatkräftig unterstützt von Ella. Gemeinsam bekommen sie das Boot in den Griff. Auf Kreta beteiligt sich Marthe an archäologischen Ausgrabungen, dem zweiten Ziel ihrer Reise.
Der geplatzte Traum der Atalante
Lorient, April 1926. Der polynesische Traum nimmt Gestalt an. Miette hat sich in die Atalante, einen zum Thunfischfänger umgebauten Lotsenkutter aus Le Havre, verguckt. Doch nicht nur das Boot hat es ihr angetan. Sie verliebt sich Hals über Kopf in den Schiffsverkäufer. Als der erfahrene Reeder, versierte Seemann und erfolgreiche Unternehmer sie einlädt, mit ihm einen Monat lang an Bord der Hébè auf wissenschaftliche Thunfisch-Expedition zu gehen, sagt sie spontan zu und lässt Ella Maillart die Atalante allein klarmachen. Miette hofft, dabei ihre Navigationsfähigkeiten für die lange Fahrt in den Pazifik zu verbessern.
Nach ihrer Rückkehr erkennen Ella und Marthe ihre Freundin nicht wieder. Sie ist reizbar und abwesend. Miette zweifelt. Ist sie wirklich für das Leben einer Langfahrtenseglerin gemacht? Im August brechen Hermine, Ella, Marthe und das neue Crewmitglied Marie Clavel in Lorient nach Vigo auf. Die grosse Reise kann losgehen. Mitten in der Biskaya muss die vierköpfige Crew umkehren, Miette und Marie leiden unter Übelkeit. Am 2. September geht Miette auf Belle-Île an Land. Sie behauptet, dass die Übelkeit von einem Leberproblem verursacht wurde. In Wirklichkeit ist sie schwanger. Ihre Freundinnen, die sie eingeweiht hat, lässt sie schwören, niemandem davon zu erzählen, denn damals war eine aussereheliche Schwangerschaft eine Schande.
Segeln ade
Im April 1927 bringt Miette ihren Sohn Francis zur Welt, den sie mit viel Liebe drei Jahre lang allein aufzieht, bevor sie den zweiten Heiratsantrag von Henri Seyrig annimmt. Seit ihrer ersten Begegnung in Athen hat er sich als Archäologe einen Namen gemacht. Er erkennt Francis als seinen Sohn an. 1932 kommt Delphine zur Welt, die später Schauspielerin wird. Miette spricht mit ihren Angehörigen nie mehr übers Segeln, vermutlich, weil das Thema für sie zu schmerzhaft und mit einem Tabu verbunden ist. Ella Maillart ist am Boden zerstört, findet aber dank ihrer charakteristischen Resilienz die nötige Kraft, um ihre Projekte fortzusetzen.
Miette und Ella bleiben bis zu Miettes Tod im Jahr 1984 eng befreundet.
Literatur
Hermine de Saussure und Marthe Oulié, La croisière de Perlette, librairie Hachette
Ella Maillart, Vagabundin der Meere, Heyne Verlag
Ella Maillart, Kreuzfahrten und Karawanen, Editions 24 heures Marthe Oulié,
Cinq filles en Méditerranée, Editions Ouest-France
Audio
La vraie vie de Miette, le Labo, RTS, realisiert von Elisabeth Thorens und produziert von Camille Dupon-Lahitte