Ein Schutzgebiet, das keines ist
Die Swiss Cetacean Society setzt sich seit 25 Jahren mit wissenschaftlichen Meeresexpeditionen und Aufklärungskampagnen in der Schweiz für den Schutz von Walen ein. Unser Reporterteam hat sie an Bord der Feeling 416 auf dem Mittelmeer begleitet. Vor Embiez versuchen die Ökovolontäre mehr über die Auswirkungen der menschlichen Aktivitäten auf das Leben der Meeressäuger zu erfahren.
Text : Christopher Shand
«Schaut dort drüben! Eine Fontäne!» Auf dieses Signal haben alle gewartet. An Deck macht sich Hektik breit. Aufgeregt zeigen die Passagiere nordwestwärts, nur der erfahrene Kapitän scheint einen kühlen Kopf zu bewahren. Mit stoischer Ruhe beginnt er anzuluven. Dann ist wieder alles ruhig. Stumm, aber angespannt warten die Passagiere auf ein weiteres Zeichen. Mit zusammengekniffenen Augen blicken sie in die von der Sonne getrübte Ferne. Dann spritzt plötzlich wieder Wasser in die Höhe: einmal, zweimal und gleich ein drittes Mal. Das Glitzern über dem tiefblauen Meer verrät die Anwesenheit der Meeressäuger. Bei jeder neuen Fontäne korrigiert er den Kurs, um sich den offensichtlich gigantischen Tieren zu nähern. Maude und Aurélie sind gespannt wie Flitzebogen. Die beiden Ökovolontärinnen arbeiten diese Woche bei der Swiss Cetacean Society (SCS). Sie wollen mithelfen, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu erweitern, damit die Meeressäuger gezielter geschützt werden können. Charlotte und Jodie, die beiden ehrenamtlichen Guides an Bord, betrachten die Szene durch ihre Ferngläser. Sie glauben, dass wir es mit zwei 20 Meter langen Finnwalen zu tun haben. Ein Gemeiner Delfin taucht vor dem Boot auf und präsentiert seinen gelben Brustpanzer, während er spielerisch unter dem Bug herumtänzelt. Andere BlauWeisse Delfine (Stenellae coeruleoalbae) kreisen langsam um zwei riesige schäumende Flächen. Dort haben die Wale mit ihren Schwanzflossen ein letztes Mal aufs Wasser geschlagen, bevor sie mit gefüllten Lungen in die Tiefe abgetaucht sind. Überwältigt meint Charlotte: «Ich kann es kaum fassen. Der Gemeine Delfin war lange Zeit vom Aussterben bedroht und wir haben das Glück, ein Exemplar zu sehen und dazu noch zusammen mit zwei Finnwalen. Das ist einfach nur verrückt!»
Besserer Schutz durch mehr Wissen
Es ist der 1. August 2023, wir befinden uns 15 Seemeilen vor der Insel Embiez am Rand des Pelagos-Dreiecks. Das 87 500 Quadratkilometer grosse Meeresgebiet zwischen der Côte d’Azur, Ligurien und dem Norden Sardiniens wurde infolge der Unterzeichnung eines Übereinkommens zwischen den angrenzenden Ländern im Jahr 1999 zur Specially Protected Area of Mediterranean Importance (SPAMI) erklärt und soll den Meeressäugern als Zufluchtsort dienen. Da es jedoch sowohl an Regeln als auch an Mitteln fehlt, bedeutet dieser Schutzstatus nicht viel. Organisationen wie die SCS versuchen das zu ändern. Die gemeinnützige Gesellschaft wurde 1997 von Max-Olivier Bourcoud, einem passionierten Meeresbiologen, Tierschützer und Dozent im Kanton Waadt, gegründet. Sie organisiert weltweite Kampagnen zur Erfassung von Daten über Walpopulationen. Jedes Jahr finden im Rahmen von Forschungsprogrammen, die von der Schweizer Öffentlichkeit mitfinanziert werden, Ökovolontäre und spezialisierte Naturwissenschaftlerinnen auf speziell dafür gecharterten Segelschiffen oder Plattformen zusammen. Sie sammeln Daten und übermitteln diese an wissenschaftliche Auftraggeber wie das EcoOcéan Institut in Montpellier, die sie dann aufbereiten und auswerten.
Der Seeverkehr als Hauptproblem
Die SCS steht allen offen. Ihre Mitglieder können auf Wunsch an Feldforschungen teilnehmen. Die Organisation ist auf Ökovolontäre angewiesen, wenn sie finanziell unabhängig bleiben will. Und das muss sie, denn sie befasst sich mit heiklen Themen, die manchen ein Dorn im Auge sind. An Land, vor dem vollbesetzten Saal der neuen Hafenmeisterei in Les Embiez, stellen die beiden Guides ihre Arbeit vor. Sie wollen damit die Bootsfahrerinnen und -fahrer sensibilisieren. Mit dem Projekt Impact-CET zum Beispiel werden menschliche Aktivitäten im Meer erfasst, um ihre potenziellen Auswirkungen auf Wale, Schildkröten und Seevögel zu untersuchen. Anschliessend werden die Daten Entscheidungsträgern zur Verfügung gestellt, damit sie über die nötigen faktenbasierten Grundlagen verfügen, um Lösungen für den Schutz der Meerestiere zu finden. Die Anwesenden lauschen begeistert den Anekdoten von Charlotte und Jodie. Charlotte ist Meeresbiologin und plant eine Doktorarbeit über Buckelwale, Jodie schliesst gerade ihren Bachelor in Biologie und Ethnologie in Neuenburg ab. Als sie über die Verletzungen berichten, die den Walen durch die Fähren zugefügt werden, geht ein entsetztes Raunen durch die Menge. Wahrscheinlichkeitsberechnungen des EcoOcéan Institut haben ergeben, dass es jedes Jahr zu durchschnittlich 3168 Kollisionen mit Finnwalen und 297 mit Pottwalen kommt. Fähren und Frachtschiffe sind die Haupttodesursache von Finn- und Pottwalen, sie sind für 80 Prozent der gemeldeten Zusammenstösse verantwortlich. Dabei könnten solche Unfälle mit wenig Aufwand verhindert werden: mit Wachposten, Wärmedetektoren, einer besseren Kommunikation zwischen Schiffen und vor allem mit der verbindlichen Zusage der Schifffahrtsgesellschaften, die Kurse und Geschwindigkeiten der Schiffe den Walen anzupassen, denn diese müssen zum Atmen und für Ruhepausen zwingend an die Oberfläche kommen. Manchmal genügen 30 Meter, um den Pott- und Finnwalen den nötigen Raum zu lassen. Leider decken sich ihre Wege zwischen dem französischen Festland und Korsika mit den Fährlinien. Zum Seeverkehr kommt als weiteres Problem die industrielle Fischerei und ihr Beifang hinzu. Ihr fallen jedes Jahr Zehntausende Delfine, Schweinswale und Schildkröten zum Opfer. Nicht zuletzt vergiftet das schwimmende und angeschwemmte Mikro- und Makroplastik das Wasser und lässt unzählige Tiere auf qualvollste Weise verenden. Diese besorgniserregenden Fakten motivieren die Crew zusätzlich, schliesslich wollen sie etwas bewirken. Jetzt gerade zählen die Guides und Ökovolontäre in der Abenddämmerung Sepiasturmtaucher, Sturmwellenläufer und Flussseeschwalben, die sich in den Wellentälern tummeln. Fasziniert schauen sie dem Spektakel zu, im Wissen, dass sie mit ihrem ehrenamtlichen Einsatz dazu beitragen, dass auch die späteren Generationen dieses Naturschauspiel noch erleben dürfen. Für die SCS ist es Ehrensache, dass sie für die vielen Schweizerinnen und Schweizer, die auf den Meeren unterwegs sind, nur zertifizierte Informationen bereitstellt. «Nur durch eine rigorose Informationspolitik kann der Öffentlichkeit vermittelt werden, was wirklich auf dem Spiel steht, das heisst, wie wichtig der Schutz der Meeressäuger und deren Lebensraum ist», heisst es auf ihrer Website. Hierzu ist die SCS an vielen Fronten aktiv: Sie bietet Workshops zur marinen Ökologie auf dem Meer oder an Land an, führt naturkundliche und ketologische Schulungen durch und organisiert Ausstellungen und Vorträge.