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Orca-Vorfälle in Gibraltar

von Jean-Christophe Guillaumin

Es ist ausgespielt!

Seit 2020 ist die Strasse von Gibraltar für Boote eine Gefahrenzone. Immer wieder machen sich etwas allzu neugierige Orcas an den Ruderblättern zu schaffen. Über die Ursache wird wild spekuliert. Einige sprechen von gezielten Angriffen, andere von einem Spieltrieb oder Rache. Jetzt räumen Wissenschaftler mit den wilden Gerüchten auf. Vor allem aber haben sie eine Lösung, wie man das Problem umgehen kann.

DIE SCHWERTWALE HABEN ES AUF DIE RUDERBLÄTTER DER SEGELBOOTE ABGESEHEN, WIE HIER AM OCEAN
RACE, ALS SIE DIE JACHT VON TEAM JAJO INS VISIER NAHMEN. ©Screenshot Video Team Jaio

Am 29. Juli 2020 machte eine ungewöhnliche Nachricht hellhörig: Neun Schwertwale sollen vor Gibraltar eine 46-Fuss-Jacht angegriffen haben. Die Biologin Victoria Morris, die sich an Bord befand, erinnert sich noch genau: «Das Geräusch war beängstigend. Immer und immer wieder rammten die Orcas den Kiel. Und dann war da dieses schreckliche Echo. Ich dachte, sie bringen das Schiff zum Kentern. Sie verständigten sich mit Pfiffen und veranstalteten einen ohrenbetäubenden Lärm.» Nach Einschätzung der Wissenschaftlerin war die Attacke sauber geplant. Kaum war die Nachricht im Guardian erschienen, verbreitete sie sich wie ein Lauffeuer. Es war nicht der erste «Angriff», aber danach häuften sie sich. 52 waren es allein 2020, seither über 200 pro Jahr. Insgesamt wurden bisher 799 solcher Vorfälle gemeldet.

Ein Spiel? Ja, aber ein gefährliches!

Orcas haben es vor allem auf Ruderblätter von Segelbooten abgesehen, die kleiner sind als 20 Meter. Sie machen sie so lange daran zu schaffen, bis sie reissen. Im besten Fall kann das Boot nicht mehr weitersegeln, imschlimmsten Fall tritt Wasser ein. Die Wissenschaftler, die das Phänomen untersuchen, sprechen bewusst nicht von Angriffen, denn das würde voraussetzen, dass die Tiere uns bewusst Schaden zufügen wollen. Sie ziehen den Begriff «Interaktion» vor. Das Gebiet, in dem diese Interaktionen zwischen Orcas und Booten auftreten, reicht von der bretonischen Küste bis zur Strasse von Gibraltar.

Angesichts der Schäden und der grossen Aufregung rund um diese Vorfälle haben die Behörden Protokolle erarbeitet. Nur leider sind nicht alle hilfreich und widersprechen sich teilweise sogar. Auch die Wissenschaft hat sich dem Problem angenommen. Nach mehrjähriger Forschung liegen jetzt schlüssige Erkenntnisse vor, aus denen sich Verhaltensregeln für Bootsführer ableiten lassen. Sie sollen bei einem Vorfall das Schlimmste verhindern. Renaud de Stephanis, der Präsident und Gründer des Walforschungsinstituts CIRCE, ist kategorisch: «Wir Wissenschaftler sind uns einig. Es handelt sich um ein Spiel. Die Orcas, fast immer Jungtiere, amüsieren sich. Für uns Menschen ist das Spiel aber gefährlich. Es ist verständlich, dass Segler sich angegriffen und sogar bedroht fühlen, wenn ein oder mehrere Tiere dieser Grösse auf sie zuschwimmen und das Boot rammen. Aber heute wissen wir, wie wir dieses Spiel stoppen können.»

Wie reagieren, wenn sich Orcas dem Boot nähern? Zu wissen, dass die Schwertwale vor Gibraltar es nicht auf Menschen abgesehen haben, sich nicht für das Fehlverhalten eines Fischers oder die Verletzung durch eine Schiffsschraube rächen wollen (die Presse war voll von solchen Mutmassungen), ist schön und gut. Aber wie sollman sich verhalten, wenn tonnenschwere Orcas auf einem zuschwimmen und ins Ruderblatt beissen? Anhalten und alle Segel bergen? Den Motor anwerfen und so schnell wie möglich das Weite suchen? Sand oder Diesel um das Boot werfen? Knall- oder Feuerwerkskörper in Richtung der Orcas zünden? Oder die Technik bemühen und Pinger versenken – jene akustischen Signalgeber, die Meerestiere verscheuchen sollen?

©CIRCE

Renaud de Stephanis, der seit 1996 Schwertwale in der Strasse von Gibraltar erforscht, hat darauf eine klare Antwort: «Was tun Sie bei einer Sturmwarnung? Sie meiden die Gefahrenzone. So ist das auch mit den Orcas. Wir wissen, wo sie sich aufhalten. Tagsüber bewegen sie sich in ihrem Jagdrevier nur wenig, sie legen höchstens 2,5 Kilometer zurück. Auf Telegram kann man sich die Position der Orcas anzeigen lassen. Seit Oktober 2022 ist keiner unserer rund 2000 Follower Opfer eines Angriffs geworden. Es ist also ganz einfach: Meiden Sie das Gebiet und Sie werden mit ziemlicher Sicherheit nicht belästigt.»

Was, wenn man trotz allem von einer Gruppe Orcas verfolgt wird, wie soll man sich dann verhalten? «Ganz einfach», fährt der Wissenschaftler fort, «Sie fahren weiter. Wenn Sie anhalten, geben Sie den Orcas das, was sie suchen. Bei einem Boot, das sich vorwärts bewegt, haben die Meeressäuger Schwierigkeiten, das Ruderblatt zu erwischen. Ausserdem verringert sich so die Wucht und die Schwere der Interaktion. Und natürlich finden es die Orcas weniger lustig, wenn Sie weiterfahren, und geben schneller auf. Alle anderen sogenannten Wundermittel sind Humbug. Pinger funktionieren nicht, Knallkörper sind illegal und alles andere ist für Sie oder die Tiere gefährliches Blabla. Vor allem aber werden die zirkulierenden Ammenmärchen nicht verhindern, dass die Tiere mit Ihrem Boot spielen. Sie laufen höchstens Gefahr, grossen Schaden zu nehmen.»

EIN VON ORCAS BESCHÄDIGTES RUDER. AN WEITERSEGELN IST
IN DIESEM ZUSTAND NICHT ZU DENKEN! ©Halcyon Yachts

Das Protokoll zeigt Wirkung

Seit der Einführung des Telegram-Channels und des von Renaud de Stephanis ausgearbeiteten Protokolls sind die «aktiven Interaktionen» um 70 Prozent zurückgegangen. Laut dem Wissenschaftler mussten auch 80 Prozent weniger Boote nach schweren Havarien abgeschleppt werden. Jetzt müsse man den Jungtieren nur noch ihre schlechte Angewohnheit abgewöhnen, sagt de Stephanis. Dazu hat sein Team ein Ruderblatt mit kegelförmigen Ausbuchtungen und einer speziellen Farbe entwickelt, das für die Orcas weniger attraktiv ist. Wenn genügend einheimische Boote damit ausgerüstet sind, dürfte das gefährliche Spiel bald ausgespielt sein.

DAMIT DIE TIERE GEORTET WERDEN KÖNNEN, WERDEN MITHILFE VON
PFEILEN, DIE SCHNELL ABFALLEN, TRACKER BEFESTIGT. ©CIRCE

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