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Seekrankheit effizient bekämpfen

von Quentin Mayerat

„Ich werde reisekrank, solange ich denken kann, egal, ob im Auto, im Zug oder auf dem Schiff“, sagt Kikka. „Mittlerweile bin ich zwar etwas seefester, aber früher oder später, vor allem, wenn wir vor dem Wind segeln, machen sich die ersten Symptome bemerkbar. Ich werde müde, mir wird schlecht, ich bekomme Kopfschmerzen und muss erbrechen.“ Die Seglerin wollte das Leiden endlich loswerden und unterzog sich deshalb letzten Herbst in Nizza einer noch relativ wenig bekannten Behandlung, die von Hals-Nasen-Ohrenärzten und Physiotherapeuten aber schon seit mehreren Jahren angeboten wird. „Bei der vestibulären Rehabilitation geht es darum, dem Gehirn beizubringen, wie es mit den widersprüchlichen Informationen, die es von den Augen, dem Gleichgewichtsorgan im Innenohr und dem propriozeptiven System, das heisst den Rezeptoren an der Fusssohle oder der Sehnen, umgehen soll“, sagt der Physiotherapeut und Osteopath Alain Thiry. „Dadurch soll die vestibuläre Sensibilität entweder verringert oder gestärkt werden, damit sich eine Art Wahrnehmungsharmonie einstellt.“

Dauerhafte Resultate

Alain Thirys Behandlung besteht aus zehn, auf zwei Wochen verteilten Sitzungen, die bei Bedarf wiederholt werden können. Er erklärt: „Ich erstelle zunächst eine Bilanz. Danach verwende ich einen Drehstuhl sowie optisch-kinetische Reize. Diese bestehen aus Leuchtpunkten, denen der Patient mit den Augen folgen muss, während er entweder auf festem Boden oder auf einer sich bewegenden Plattform steht. So bilde ich die Umstände nach, bei denen sich die Seekrankheit bemerkbar macht, achte aber darauf, dass dem Patienten nie übel wird. In Härtefällen dauert eine Sitzung manchmal nur 30 Sekunden, danach wird die Zeitspanne zunehmend länger. So hat das vestibuläre System die Möglichkeit sich anzupassen, denn was das Gehirn einmal gelernt hat, geht nicht wieder verloren. Nach zehn Sitzungen bitte ich den Patienten, an Bord zurückzukehren, um die Wirksamkeit der Behandlung zu überprüfen. Falls das Resultat nicht zufriedenstellend ist, sind weitere Sitzungen nötig.“ Kikka konnte aus Termingründen nur sieben Sitzungen absolvieren, spürt aber bereits eine Besserung. „Ich habe den Eindruck, dass ich ohne Medikament länger durchhalte, aber angesichts der Schwere meines Leidens müsste ich mich weiter behandeln lassen.“ Wenn die vestibuläre Rehabilitation richtig durchgeführt wird, sollen die Erfolgschancen bei 70 bis 80 Prozent liegen.

Wie eine Vergiftung

Stéphane Besnard, forschender Arzt am Universitätsspital von Caen, befasst sich ebenfalls intensiv mit Kinetose, wie die Reisekrankheit im Fachjargon genannt wird, und interessiert sich dabei vor allem für Wissenschaftler auf Parabelflügen sowie Passagiere und Seefahrer des Schiffes Astrolab, das die französischen Stationen in der Antarktis anfährt. Seine Erläuterungen decken sich mit den Ausführungen von Alain Thiry: „Die Seekrankheit wird durch verschiedene visuelle, vestibuläre und sensitive Konflikte ausgelöst, die das Gehirn mit den verschiedenen aktivierten Zonen – dem Stammhirn, dem Hippocampus und dem Cortex – lösen muss. Die Gehirnzentren verlieren die Orientierung und werden in Alarmbereitschaft versetzt. Dabei reagiert der Körper, als wäre er vergiftet worden, was auch das Erbrechen erklärt. Der Organismus versucht, das Blut von Giftstoffen zu reinigen, dabei wären Gehirn, Netzhaut und Herz gerade jetzt auf eine bessere Durchblutung angewiesen. Die Seekrankheit soll in erster Linie durch Gravitationsreize, das heisst durch vertikale Bewegungen verursacht werden. Stampfen ist deshalb viel schlimmer als Rollen und auch die Häufigkeit der Wellen und ihre Breite beeinflussen die Seekrankheit.“

Stéphane Besnard verfolgt die vestibuläre Rehabilitation mit grossem Interesse: „Dass das Gehirn lernen kann, mit diesen Konflikten umzugehen, ist offensichtlich. Wir kennen seine Plastizität. Sie ist der Grund, weshalb die Seekrankheit bei vielen Menschen nach drei Tagen auf dem Meer verschwindet.“ Dennoch zieht der Arzt bei seinen Forschungen den Einsatz von Medikamenten vor. 2016 wird er auf der Astrolab einen in den USA erhältlichen Nasenspray mit Scopolamin testen. Ausserdem verfolgt er die Arbeiten der französischen Firma Sensorion, einem Spin-off von Inserm, das an neuen Molekülen arbeitet. Sie befinden sich derzeit im präklinischen Stadium und werden wahrscheinlich 2017 auf den Markt gebracht. Stéphane Besnard begrüsst diese Entwicklung, denn bisher gibt es kaum Mittel zur Bekämpfung von Kinetosen und Schwindel im Allgemeinen.

*In der Schweiz kann man sich an Physiotherapeuten wenden, die Kinetose behandeln und vestibuläre Rehabilitation anbieten (siehe www.physioswiss.ch).

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