Für diesen Sommer werden wieder allerorten Fernreisen gebucht – ein Post-Corona-Effekt. Doch ist dieser Trend mit dem Umweltgedanken vereinbar?

Text: Bernard Pichon

Während der Pandemie fragte man sich häufig, wie wohl die «Welt danach» aussehen würde. Würde es wieder Massentourismus und günstige Kurztrips nach Barcelona oder Amsterdam geben? Oder würde ein stärkeres Klimabewusstsein entstanden sein? Die Unternehmensberatung McKinsey & Company sprach damals bereits von «Revenge Travel» …
Zwischen 2020 und 2022 waren zahlreiche Urlauber gezwungen, ihre Pläne zu verwerfen oder radikal zu ändern. Keine Flug- oder Schiffsverbindungen: Urlaub in der Nähe mit dem Zug oder dem Auto war angesagt. Der Ferienhausbranche ging es grösstenteils deutlich besser als den Hotels.
Viele legten das Geld während der Pandemie auch lieber auf die Seite. So können sie sich heute trotz der gestiegenen Preise wieder Langstreckenflüge und Kreuzfahrten leisten.
Laut Welttourismusorganisation (UNWTO) reisten 2022 über 900 Millionen Menschen ins Ausland. Das waren zwar doppelt so viele wie 2021, dennoch entspricht diese Zahl nur 63 % des Vor-Corona-Niveaus. Aktuell melden die meisten Fluggesellschaften ausgebuchte Flüge, auch wenn diese Auslastung zum Teil auf einen reduzierten Flugplan zurückzuführen ist.

Was sagen die Agenturen?

Bereits im Januar stellte Stéphane Jayet, Vizepräsident des Schweizer Reise-Verbands, eine «enorme Nachfrage für Japan und Australien» fest, während Jacqueline Ulrich, Co-Geschäftsleiterin des Freiburger Reisebüros L’Esprit du Voyage von einem «Run auf Thailand, Mauritius und Mallorca» berichtete.
«2020 hatten sich viele unserer Kunden eine Reise planen lassen, die sie bis heute nicht antreten konnten. Dieses Jahr greifen sie ihre Pläne wieder auf, erklären aber bei sehr weit entfernten Destinationen, dass es vermutlich ihre letzte grosse Reise sein wird, da sie ihren CO2-Fussabdruck nicht vergrössern möchten», so Valbone Hoxha vom Atelier du Voyage in Lausanne. Die Kunden seien sogar bereit, etwas mehr für einen Direktflug zu zahlen, da ihnen bewusst sei, dass die Umweltbelastung mit Zwischenlandungen höher sei. Manche zahlten einen Kompensationsbetrag für ihre Emissionen über spezielle Stiftungen.
Laut Stéphanie Degallier von der Waadtländer Agentur Départ Voyages ist die Lust der Kunden, endlich wieder wegzufahren und sich eine schöne Auszeit zu gönnen, wahnsinnig gross. «Bei den Hotels und den Fluggesellschaften, mit denen wir zusammenarbeiten, findet tatsächlich ein ökologisches Umdenken mit konkreten Massnahmen statt.» Dagegen kann die Geschäftsführerin bei ihrer Kundschaft (noch?) kein deutliches Interesse an Angeboten feststellen, bei denen dieser Trend im Vordergrund steht.
Manuel Chablais, Leiter der Reiseagentur Ailes in Estavayer und aktiver Umweltschützer, erkennt bei seinen Kunden eine gewisse Abkehr von «Billigangeboten» und einen Trend hin zu anspruchsvolleren, aber selteneren Reisen, die manchmal sogar Jahre im Voraus geplant würden. Um dem Übertourismus Herr zu werden, könnte er sich sogar die Einführung von Rationierungsmarken, wie man sie etwa aus Kriegszeiten kennt, vorstellen. Utopisch?

Kenntnis des eigenen Fussabdrucks

Das CO2-Äquivalent ist eine Masseinheit, mit der die Auswirkungen verschiedener Treibhausgase auf die Umwelt verglichen und kumuliert werden können. Option Way, ein französisches Technologieunternehmen, hat im Januar 2022 einen CO2-Rechner herausgebracht, der Reisenden dabei hilft, Flüge mit den geringsten CO2-Emissionen auszuwählen. Das Unternehmen hat festgestellt, dass ungefähr 30 % an zusätzlichen CO2-Emissionen vermieden werden könnten, wenn die Reisenden das umweltfreundlichste Flugangebot wählen würden. Der CO2-Emissionsrechner berücksichtigt zahlreiche Parameter wie den Flugzeugtyp, das Motormodell, die zurückgelegte Entfernung, die Zahl der Zwischenlandungen, die Flugklasse, die Auslastung an Bord usw. Natürlich ist der Kauf von Emissionsgutschriften für die während des Fluges ausgestossene CO2-Menge zusätzlich möglich.

Trends

Dem Reisen im Übermass steht ein minimalistischer Ansatz gegenüber. Im Vordergrund dabei: das Kleine, Ungewöhnliche, Einzigartige, Exklusive … aber nicht die Zeitersparnis. So steht «Slow Tourism» für ein langsameres, bewussteres Reisen, bei dem man das Erlebte besser in sich aufnehmen kann. Es geht nicht mehr darum, Länder auf einer «Bucket List» abzuhaken oder Stempel im Reisepass zu sammeln («Ich war schon auf Sardinien, in Thailand …»).
Daneben entwickelt sich durch das Artensterben und die Umweltzerstörung ein «Last-Chance-Tourismus»: Viele Menschen möchten bestimmte Orte noch besuchen, bevor es sie in dieser Form vielleicht nicht mehr gibt. Kreuzfahrten in die Polargebiete entsprechen diesem Trend ebenso wie das so genannte «Urban Exploring»: die zumeist private, nicht genehmigte Erkundung verlassener oder aufgegebener Orte, die zum Schutz vor Vandalismus und Diebstahl geheim gehalten werden.
Schliesslich gibt es auch einige Urlauber, die den negativen Auswirkungen des «Overtourism» mit einem Fokus auf drei Beziehungen entgegenwirken möchten: der Beziehung zu sich selbst, zu anderen und zur Umwelt. Ein Achtsamkeitskonzept, das auf buddhistische Meditationspraktiken zurückgeht. Es setzt eine völlige Präsenz für die uneingeschränkte Wahrnehmung von Empfindungen, das Treffen bewussterer Entscheidungen – vor allem im Ernährungsbereich – und ein Interesse an Yoga und an einer eingehenden Auseinandersetzung mit der lokalen Kultur voraus. Selbstverständlich gehört dazu der Verzicht auf Internet, E-Mails und Messenger.

Privatunterkünfte

All-inclusive-Angebote mit Charterflug haben zu einer starken Demokratisierung des Reisens geführt. Doch die grossen Hotelanlagen, die für die Bewältigung des Touristenansturms erforderlich sind, bringen häufig eine Verunstaltung der Landschaft und praktisch keinen Nutzen für die örtliche Bevölkerung mit sich. Die Alternative: Privatunterkünfte. Das auch mit den englischen Begriffen «Homestay» oder «Bed & Breakfast» bezeichnete Konzept, bei dem der Alltag mit Einheimischen geteilt werden kann, existierte schon vor dem Aufkommen der Hotellerie. Dass es wieder an Beliebtheit zu gewinnen scheint, liegt am meist günstigen Preis. Auf Kuba beispielsweise zahlt man für ein Gästezimmer praktisch nur halb so viel wie für eine Hotelübernachtung (wohingegen die B&BPreise in Frankreich sehr unterschiedlich sind und bisweilen an Hotelpreise heranreichen). In der Regel fliesst das Geld direkt an die Gastgeber, ohne dass andere daran mitverdienen. Doch man sollte das Angebot nicht nur aus wirtschaftlicher Perspektive betrachten. Wie kann man ein Land besser verstehen und kennenlernen als durch ein völliges Eintauchen in das dortige Leben?

Auszeichnungen

Ganz im Zeichen dieser Trends kürt die UNWTO die «besten Tourismusdörfer». Im vergangenen Jahr hat sie 32 Reiseziele in 18 Ländern ausgezeichnet, die den Touristen eine andere, von Naturverbundenheit geprägte Lebensweise vermitteln. Zwei der prämierten Orte befinden sich in der Schweiz: Andermatt und Murten. Andermatt zeichnet sich durch eine äusserst vielfältige alpine Flora und Fauna, zahlreiche Seen, Bäche und Quellen sowie eine unberührte Berglandschaft aus. Murten ist für seine fast vollständig erhaltene Befestigungsanlage bekannt, deren schützende Ringmauer komplett begehbar ist und einen prächtigen Blick über die Altstadtdächer und den See bietet.