Vor der Halbinsel Cotentin liegen wie zufällig verstreut ein paar Felsen. Ihre Launen sind ebenso wechselhaft wie die Tiden, denen sie ausgesetzt sind. Bevor man sich mit dem Segelboot in dieses Atlantis wild hingeworfener Steine vorwagt, sollte man die Karten genau studieren.

Text und Fotos: Christophe Migeon

Wer in Granville in See sticht, denkt unweigerlich an die Neufundlandfischer zurück. Sie verliessen in der Zwischenkriegszeit die Korsarenstadt, um in den Fanggründen des Nordatlantiks Kabeljau zu fischen. Sechs bis sieben Monate waren sie in der nassen Kälte und im dicken Nebel unterwegs. Heute haben Hornschnecken und Jakobsmuscheln den Kabeljau ersetzt. Für die muss man zum Glück nicht so weit reisen. Hornschnecke mit Majo ist hier, was in Marseille der Pastis: der typische Aperitif. Während das Segelboot in der tiefstehenden Sonne durch die funkelnde Bucht in Richtung West-Nordwest zieht, führt man sich genüsslich die kleinen Weichtiere zu Gemüte. In der dunstigen Ferne ragt der Mont Saint-Michel aus dem suppenähnlichen Meer. Seine Glockentürme sehen aus, als wären sie gerade erst vom Himmel gefallen. Die eigentümliche Insel, heisst es im Volksmund, soll der Flut zusehen, wie sie schnell wie ein galoppierendes Pferd ansteigt. Jetzt gerade versinkt sie allerdings im Nebel und begräbt jegliche Hoffnung, einen Blick auf den lächelnden Erzengel zu erhaschen. Kormorane und Tümmler weisen den Weg. Bald schon zeichnen sich die ersten Vorboten des rund zehn Seemeilen vor der Küste verstreu- ten Archipels mit ihren von Braunalgen und orangefarbenen Flechten überzogenen Felsspitzen vom Horizont ab. Ein Blick auf die Seekarte zeigt: Die Fischer hatten eine blühende Fantasie, als sie die vielen Inselchen auf die Namen Eidechse, Elefant, Böses Mädchen, Keule, Gute Frau, Jüngling und Blowjob tauften.

ANKUNFT AUF GRAND ILE.

Hummer, Prinz der Chausey-Inseln

Der Chausey-Archipel liegt auf einem elliptischen Granitplateau von 6 Seemeilen Län- ge und 2,5 Seemeilen Breite. Seine Kuppen, Spitzen und anderen Erhebungen werden im endlosen Takt des Tidenhubs ständig neu vom Meer verschluckt und wieder freigegeben. Zerbröselt zu einer Vielzahl Inselchen bilden die «Chauseys» den grössten Archipel Europas. 365 sollen es bei Ebbe, 52 bei Flut sein – gleich viele wie das Jahr Tage und Wochen hat. Diese Zahlen sind weniger den Zufällen der Topogra- fie zu verdanken als einer Marketingidee der Tourismusbehörden. Die starken Strömungen, der gigantische Tidenhub von bis zu 14 Metern – nur die Fundy Bay in Kanada schafft mehr –, die rasant steigende Flut und die ebenso schnell eintretende Ebbe können die Felslandschaft mit ihren unzähligen Riffen, Watten und tückischen Sandbänken im Nu in einen Alptraum für jeden Segler verwandeln. Sommer für Sommer stranden hier Segelboote oder zerschellen an den ihnen übel gesinnten Felsen. Unvorsichtige und Überhebliche bezahlen teures Lehrgeld. Tatsächlich will die Navigation in den Chausey-Inseln gelernt sein. Wer sich hingegen damit begnügt, in den Sound zu segeln, läuft so gut wie keine Gefahr, die Seerettung rufen zu müssen, denn der 0,5 Seemeilen lange und 100 bis 500 Meter breite Kanal führt immer Wasser. Von Granville dauert die Überfahrt rund zwei Stunden. Der Sound ist daher bei Einheimischen als Ausflugsziel sehr beliebt. Bei der Einfahrt vor Grande Ile, der einzigen bewohnten Insel, erblickt man gut verborgen hinter Wacholderbüschen eine merkwürdige Pyramide. Im 19. Jahrhundert diente der Lambert-Turm zusammen mit dem rund hundert Meter entfernten Baudry-Turm als Landmarke. Sie teilten die Bucht des Mont-Saint-Michel in zwei Fischergebiete, um den Querelen zwischen den Normannen und den Bretonen, die mit Musketen aufeinander losgingen und die gegnerischen Schiffe versenkten, ein Ende zu setzen. Die Türme wurden nach den ersten vereidigten Wachmännern benannt, die im Sektor patrouillierten. Inzwischen haben sich die Spannungen gelegt, die Fischer von Chausey sind allerdings nach wie vor mürrische Zeitgenossen. Wer den griesgrämigen Inselbewohnern mehr als ein paar undeutliche Laute entlockt, kann sich glücklich schätzen. Ein halbes Dutzend Fischer wirft bei Ebbe noch immer Fangschnüre am Fuss der Felsen aus. Manche hängen eine kleine Milchflasche aus Plastik in die Reusen. Damit locken sie Tintenfische in die Falle, denn die fühlen sich von dem glänzenden Weiss des umherwirbelnden Köders unwiderstehlich angelockt. Auch Krabben werden in der Bucht gerne gesucht. Auf den Chausey-Inseln aber sticht der Hummer alle aus. Ein einträgliches Geschäft, die Preise sind hoch und die täglichen Ausfahrten auf vier oder fünf Stunden beschränkt. Um unnötiges Hinund Herverfrachten zu vermeiden, werden die Krustentiere im Sound in Fischbecken gegeben, sodass sie auf dem Fischmarkt in Granville quicklebendig verkauft werden können. Hummer gehören zum Alltag. Wenn die Fischer mit ihren Fachbegriffen um sich werfen, verstehen die meisten Nicht- eingeweihten Bahnhof. Ein «Criquet» bezeichnet einen kleinen Hummer, der durch die Maschen schlüpft, ein «Bouteille» hat die Zangen verloren und ein «Mimile» ist ein einarmiges Exemplar.

DIE HÜTTE VAUBAN AUF DEN FELSEN VON CHAMPEAUX.

Von Korsaren und Sodaherstellern

Während die Touristen an der Anlegestelle Grande Cale das Schiff aus Granville in kompakten Gruppen verlassen und schnurstracks zum Strand von Port-Marie marschieren, um dort ihre Badetücher zu platzieren, sollte man die Gelegenheit nutzen und die Insel auf dem Rundweg erkunden. Grand Ile hat ihren ersten Namensteil nur erhalten, weil sie konkurrenzlos war. Auf mehr als einen Kilometer Länge bringt sie es nämlich nicht. Im Hochsommer zählt die Insel bis 1000 Boote und 500 Einwohner, den rauen Winter wollen aber gerade mal ein knappes Dutzend hier verbringen. Und auch sie besitzen meistens noch ein Haus auf dem Festland. Hinter der Grande Cale führt der Weg zunächst am Haus der Lokalprominenz vorbei. Bis zu seinem Tod im Jahr 1987 lebte der Marinemaler und Schriftsteller Marin-Marie auf der Insel. Wenn er nicht seiner Hauptbeschäftigung nachging, spazierte er der Bucht von Les Blanvillais entlang. Dort vertrieb in der Mitte des 18. Jahrhundert ein gewisser Pierre Régnier die letzten Engländer, die so unverschämt waren, sich auf diesem Juwel der französischen Krone niederzulassen. Nach vollendeter Tat startete der heimische Korsar eine erfolgreiche Karriere als «Barilleur». Was darunter zu verstehen ist, sehen wir gleich. Vorher noch eine kleine Präzision: Die Chauseys waren die einzigen Kanalinseln, die der Machtgier des perfiden Albion entkommen sind. Auf der englischen Karte, die beim Frieden von Paris von 1763 als Grundlage diente, waren sie schlicht vergessen gegangen! Von den britischen Squattern befreit konnten die «Barilleurs» ihre Tätigkeit in aller Ruhe aufbauen. sie sammelten Seetang, aus dem durch Verbrennung Soda gewonnen wurde. Anschliessend wurde die wertvolle Ware zur Seifenproduktion nach Rouen verschifft.

Grosse, nackte Felswände erinnern daran, dass Chausey nicht nur schleimigen Tang und langarmige Krebse beheimatet. Sein Granit, genauer sein Granodiorit, wurde jahrhundertelang in der ganzen Normandie und weit darüber hinaus verwendet. Die Abteikirche des Mont Saint-Michel, Herrenhäuser des Cotentin, die Piers in Dieppe und London, die Trottoirs von Paris à la Haussmann – sie alle wurden aus diesem 540 Millionen Jahre alten, glimmer- und feldspatreichen Gestein gebaut. Die letzten Steinbrucharbeiter verliessen die Inseln in den 1950er-Jahren nach dem Wiederaufbau des Hafens von Saint-Malo.

DER NATURHAFEN «HAVRE DE LA VANLÉE» IM MORGENGRAUEN.

Landschaftliche Vielfalt

Der Weg schlängelt sich zwischen Teppichen aus Salzmelde und Strandastern, Ginsterbüschen und anderen Schmetterlingsblütlern der Küste entlang. Davor liegen wie choreografisch angeordnet Felsen mit nassem Seetang, tiefblaue Kanäle und Halbmonde aus hellem, polynesisch anmutendem Sand. An den von der Ebbe entblössten Stränden suchen ein paar Fischer unter dem empörten Blick von Seeschwalben und Austernfängern mit Rechen und Greifern nach Muscheln. Müde vom zermürbenden Spiel zwischen Brandung und Erde wenden die Pfade dem Meer den Rücken zu und verziehen sich ins Hinterland, wo Buchen und Haselsträucher zwischen Mulden und Feuchtwiesen saftige Heckenlandschaften bilden. Keine 200 Meter weiter, beim alten Leuchtturm aus dem Jahr 1848 an der Südostspitze der Insel, mutet die Natur plötzlich mediterran an. Leuchtend weisse Häuser, Suk- kulenten und Pinien vermitteln Mittelmeerfeeling. Im Sound stampfen Segelboote vor Anker, als könnten sie es nicht erwarten, die berüchtigte Dérout-Meerenge zwischen dem westlichen Cotentin und den Kanalinseln zu durchqueren.

Salzwiesen und Naturhäfen

Zurück an der Küste oberhalb von Granville fährt das Boot einem kuriosen Landstreifen aus Dünen und hellen Stränden vor sattgrünen Hügeln entlang. Die Sandfläche zieht sich über 60 Kilometer und wird von acht Flussmündungen durchbrochen. Sandbänke und Salzsümpfe mit labyrinthartigen Rinnsalen bilden in den Deltas wundersame Gebilde. Die «Côte des Havres» zwischen der Pointe du Roc im Süden und dem Kap Carteret im Norden, an der Westküste der Halbinsel Cotentin, ist eine Abfolge von Lagunen. Langsam fliessende Flüsse, deren Strom aber doch stark genug ist, um die Dünenkette zu durchbrechen, haben hier eine einzigartige Landschaft geschaffen. Sie ist umgeben von Schlick, in dem Watvögel sich den Bauch vollschlagen, und von Salzwiesen, auf denen Schafe gemächlich grasen. In einigen dieser Naturhäfen kann man sogar anlegen, wie in Regnéville-sur-Mer, wo die Ebbe die ermatteten Segelboote auf den Sand sinken lässt, neugierig beäugt von Robben, die so grau sind wie ihr Badewasser. Dünne Nebelschwaden schweben über dem matten Grün der Salzwiesen. Über den mit Strandhafer bewachsenen Dünen begrüssen Lerchen die aufgehende Sonne mit ihrem fröhlichen Trillern. Zeit, den Anker zu lichten und diese Oase der Ruhe zu verlassen. In der Ferne betont die Küste von Jersey den Horizont mit einem dunklen Strich. Auf dem Meer tanzen rebellische Schaumkronen. Noch weiter nördlich liegt zwischen Alderney und La Hague die Strasse von Alderney mit einer der stärksten Gezeitenströmungen Europas. Sie verwandelt das Meer mit roher Gewalt in einen brodelnden Kessel. Die Chausey-Inseln haben eben mehr als eine Seite.

Praktische Infos

Kontakt

Latitude Manche, manchetourisme.com
Destination Granville Terre & Mer, tourisme-granville-terre-mer.com

Für massgeschneiderte Reisen und/oder Törns:

my Charter, info@mycharter.ch, mycharter.ch

Segelbootcharter in Granville

Mit Skipper: Gourmettörn auf der Mangrove, der Gib’Sea von Voidie Voile. 72 € pro Erwachsene/r bzw. 57 € pro Kind unter 14 Jahren. voidievoile.fr Ohne Skipper: Grune Sec, Vermietung komfortabler, gut ausgestatteter Segelboote von 8 bis 15 Metern mit zwei bis fünf Doppelkojen

Rund 300 € pro Wochenende für die Miete der gesamten Gib’Sea 84, zwei Kabinen mit 4 bis 6 Kojen. grunesec.fr

Die Chausey-Inseln mit dem Segelboot

Die Navigation durch den Chausey-Archipel ist nicht ganz einfach. Um von Süden nach Norden oder umgekehrt zu gelangen, durchquert man den Beauchamp-Kanal, 1,8° westlich von Grand-Ile. Er ist betonnt und führt zu den Ankerplätzen Beauchamp, La Mauvaise, Lézard, Les Carniquets und Bonhomme.

Für die Inselgruppe gelten strenge Regeln:

Vom 15. September bis 15. Juli ist das Anlegen auf sämtlichen Inseln verboten, damit die Meeresvögel nicht gestört werden. Hunde, Jagen und Campen sind ganzjährig untersagt.
Im Sound und 300 Meter vom Ufer entfernt, d.h. praktisch überall im Archipel, gilt eine Höchstgeschwindigkeit von 5 Knoten.

Gästebojen: In der Sommersaison von Juni bis September kostet eine Übernachtung 10 €, bei längerer Dauer gelten degressive Preise: 50 €/ Woche, 180 €/Monat und 400 €/Saison. Die Plätze können allerdings nicht im Voraus reserviert werden.

Schlafen, Essen, Trinken

Hotel-Restaurant du Fort

Das einzige Hotel auf den Chausey-Inseln. Wenn die Touristen mit der letzten Fähre abgereist sind, herrscht hier eine fast andächtige Ruhe. Acht Zimmer zwischen 79 und 110 € in der Nebensaison (+10 € in der Hochsaison). Drei Menüs à 29, 39 und 79 €. hotel-chausey.com

Villa Saint-Jean

Das Gästehaus mitten in Granville verfügt über drei Zimmer, einen hübschen Garten und einen Aussenpool. Rund 120 bis 130 €/Zimmer von Februar bis November. villasaintjean.com

Hotel-Restaurant Les Ormes

Ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert neben dem «Havre de Carteret» und gegenüber dem Jachthafen mit zwölf Zimmern in drei Kategorien. Pro Übernachtung zwischen 88 und 164 €, je nach Kategorie und Saison. Frühstück für 14 €, Menüs für 19,50 €, 31 €, 41 € und 49 €. hotel-restaurant-les-ormes.fr

Sehenswertes

Wanderung durch die Bucht von Mont Saint-Michel
Start in Genêts, rund 6 Stunden für 14 Kilometer. Im Mai und im Herbst ist das Licht am schöns- ten. 12 € mit dem Wanderführer Cedric Everwyn. Tel.: 06 28 29 32 51, cheminsdelabaie.com

Wanderung durch den Havre von Saint-Germain-sur-Ay
Durch Schlick und Salzwiesen in Begleitung mit einem Naturführer. 5 € für zwei oder drei Stunden. CPIE du Cotentin. Tel.: 02 33 46 37 06, cpiecotentin.com