Der warme Japanstrom oder Kuroshio aus den Philippinen lässt auf einer 1100 Kilometer langen Inselkette zwischen Japan und Taiwan faszinierendes Leben entstehen. So überraschend Japan an Land ist, im Wasser mutet es noch exzentrischer an.

Text und Fotos: Christophe Migeon

Japan ist nicht unbedingt ein Traumrevier. Bischof Isidor von Sevilla (7. Jh.) verglich den Archipel am äussersten Ende der Erde mit einem unerreichbaren Garten Eden, den Gott mit brennenden Schwertern umgeben hat. Als Kubilai Khans Matrosen im 8. Jahrhundert gleich zweimal versuchten, das Land zu erobern, verbrannten sie sich dabei die Hände. Beide Male wurde die mongolische Flotte von einem schicksalhaften Taifun weggefegt. In der festen Überzeugung, dass der tropische Wirbelsturm sie schütze, nannten ihn die Japaner «Kamikaze» oder «göttlichen Wind». Heute sind die Bewohner des Archipels gegenüber den «Gaijin» (Fremden) etwas wohlwollender gesinnt, die Taifune aber wüten vor allem von Mai bis September mit ungebrochener Heftigkeit. Vielleicht sollte man nicht gerade diese unberechenbare Periode auswählen, um die langgezogene Ryukyu-Inselkette zu bereisen. Sie zieht sich südlich von Kyushu von der Philippinensee bis fast nach Taiwan im Ostchinesischen Meer und besteht aus unzähligen grossen und kleinen Inseln, die mehr oder weniger weit aus dem Wasser ragen und Namen tragen, die wie Bio-Shampoomarken klingen: Miyako, Iriomote, Kumejima, Yonaguni … Sie alle stehen für ein tropisches Japan, in dem die Sonne nicht nur aufgeht, sondern auch etwas wärmer scheint als anderswo. Wie weit weg die frenetischen und hektischen Grossstädte des «Mainlands Japan» vom Korallensandstrand aus betrachtet doch sind. Die Entfernung lässt den Alltag vergessen und man fühlt, wie die Spannung aus dem Körper weicht. Erfüllt mit dieser neugefundenen Gelassenheit kann man sich ganz dem Inselhüpfen hingeben.

Kume, Zuckerrohr und Mantas

Das frühere Königreich Ryukyu war lange schlau genug, seine Unabhängigkeit zu wahren. Seine Untertanen – Seetangkauer und Süsskartoffelesser – einigten sich mit ihren mächtigen chinesischen und japanischen Nachbarn auf einen cleveren Tauschhandel: Sie zahlten bescheidene Tribute und machten im Gegenzug einträgliche Geschäfte. Kume, rund fünfzig Seemeilen von der grossen Insel Okinawa entfernt, war damals ein wichtiger Zwischenstopp zwischen China und Shuri, der Hauptstadt des Königreichs. 1609 fielen 3000 schnurrbärtige Samurai in Okinawa ein und forderten die komplette Unterwerfung unter das japanische Kaiserreich. Seither hat Kume auf Zuckerrohranbau und Garnelenzucht umgesattelt. Letztere werden in Becken gehalten, deren Wasser aus 600 Metern Tiefe hochgepumpt wird. Etwas näher an der Wasseroberfläche finden Taucher auf der Suche nach Exotik an einem Korallenriff ihr Glück. Der grosse Cousteau höchstpersönlich sagte von den konfettihaften Inseln Kerama, er habe noch nie schönere Korallen gesehen. Die Riffe seien heute nicht mehr annähernd so schön, sagt Koji, der seit 30 Jahren einen Tauchclub führt. Dafür gebe es zwei Gründe: «den Anstieg der Wassertemperatur und die Ansammlung von Sedimenten. Sie stammen von den Inseln und ersticken die Korallenpolypen.»

DIE UGAN-HALBINSEL AUF ISHIGAKI-JIMA MIT IHREM KLEINEN LEUCHTTURM.

Schuld daran ist einmal mehr der Mensch. Mitte der 1970er-Jahre hatten die Behörden die glorreiche Idee, die Reisfelder durch Zuckerrohrplantagen zu ersetzen. Mittlerweile bedecken sie drei Viertel der Fläche von Kume. Zuckerrohr wird mitten in der Regensaison Ende März geerntet, sodass die kahlen Böden ausgewaschen und weggespült werden und riesige Schlammmengen ins Meer gelangen. Damit die Korallen nicht ersticken, wird um die Zuckerrohrfelder Hibiskus gepflanzt. Zusätzlich werden an Betonpfeilern gezüchtete Korallen ans Riff versetzt. Die Technik scheint zu funktionieren, was vermutlich auch an der regenerierenden Wirkung des Kuroshio liegt. Der pazifische Golfstrom transportiert viele Nährstoffe und Mineralsalze aus dem Osten Taiwans in den Nordosten Japans und lässt ganz nebenbei fantastische Landstriche entstehen. Hatenohama mit seinen drei weissen Sandbändern im türkisfarbenen Meer zwei Seemeilen vor der Küste wird als einer der schönsten Strände des Pazifiks vermarktet. Eine verlockendere Kulisse, um sein Badetuch auszubreiten und im sanften Passat eine exotische Romanze zu erleben, kann man sich eigentlich kaum vorstellen …

EIN RIFFMANTA AUS DER FAMILIE DER TEUFELSROCHEN.

wäre da nicht der angespülte Müll. Überall Plastikflaschen, Blechdosen, Styroporreste, Netzbojen und Fischerstiefel. Obwohl der Strand allmonatlich gesäubert wird, werden die hartnäckigen Strömungen nicht müde, den Schrott der Menschen auf den idyllischen Sandbänken abzuladen. «Das kommt alles aus China und Taiwan, es sind keine japanischen Abfälle», entschuldigt sich Koji. Taucht man ins Wasser und folgt Kojis Flossenbewegungen, sind die unschönen Bilder schnell vergessen. Manta Station gehört zu den bestbenoteten Tauchrevieren und macht seinem Namen alle Ehre. Das ganze Jahr über gleitet ein Dutzend hier ansässiger Mantas von einer Putzstation zur nächsten, um sich die Kiemen von umherwirbelnden Lippfischen reinigen zu lassen. Wohlig winden sich die Mantas unter den sanften Bissen des eifrigen Personals. Ihre Flügel zucken in den Lichtstrahlen vor Verzückung. Für noch mehr Wohlgefühl schweben die Geniesser nahezu bewegungslos über den Tauchern, um sich wie in einem Whirlpool von den aufsteigenden Blasen kitzeln zu lassen. Ekstatisches Kribbeln, magische Momente behaglicher Euphorie und flüchtige Episoden tierischen Glücks.

Ertrunken in Ishigaki

300 Kilometer weiter südlich, im kleinen Yaeyama-Archipel, sind die Mantas nicht weniger erpicht auf eine minutiöse Körperpflege. In der Kabira-Bucht nordwestlich von Ishigakijima kommt man ihnen ganz nah. Letzten Juni konnte Richard, der englische Tauchführer des örtlichen Clubs, einem Ereignis beiwohnen, das kaum ein Mensch zu Gesicht bekommt: der Geburt eines Mantas. «Das Weibchen zog sich plötzlich krampfartig zusammen und stiess ein Junges aus. Es hatte eine Spannweite von rund 30 Zentimetern und versuchte mehrmals wieder in die Kloake zurückzuschwimmen, aus der es gekommen war. Dann verschwand die Mutter mit ihrem Kleinen im blauen Meer.»

TRAUMSTRAND AUF KURIMA-JIMA.

Ein Napoleon-Lippfisch, begleitet von einem Gefolge aus einem Dutzend Vogel-Lippfischen, flitzt vorbei. Ein paar Papageifische knabbern mit gespitzten Lippen an Algen, während ein Halbgebänderter Plattschwanz, auch bekannt als chinesische Seeschlange, ständig wieder in die Höhe schnellt, um nach Luft zu schnappen. Wer den vor Leben strotzenden Indopazifik kennt, kommt hier wohl nicht ganz auf seine Kosten. Nach dem Grund für die geringe Anzahl Fische gefragt, entfährt es Richard: «Die Japaner essen einfach alles!» Dennoch betrachten die Einwohner der Ryukyu-Inseln mit Ausnahme einiger Fischer das Meer lieber aus der Ferne, ein kühles Bier schlürfend. «In Japan lernen die Kinder in der Schule schwimmen, aber auf den Inseln haben nur sehr wenige Schulen ein Schwimmbad, daher bleiben sie dem Wasser lieber fern.» Wer nicht schwimmen kann, setzt sein Leben aufs Spiel. Einige Tragödien sind noch immer sehr präsent. Vor dem Leuchtturm auf der Ugan-Halbinsel erinnert ein Denkmal an die 35 Geflohenen, die 1945 der blutigen Schlacht in Okinawa entkommen waren, dann aber wenige Schwimmzüge vor der Küste mitsamt ihrem Boot gesunken und ertrun- ken sind. Keiner konnte schwimmen.

Versteckspiel auf Iriomote

Westlich von Ishigaki lohnt es sich, dem Meer einen Moment den Rücken zu kehren. Die 2500-Seelen-Insel Iriomote ist praktisch vollständig mit einem Dschungel überzogen, der noch nie eine Kettensäge gesehen hat und drei Viertel der Mangrovenwälder Japans umfasst. Leise plätschernd gleiten die Kajaks zwischen den Wurzeln hindurch. Sie dringen diskret in eine amphibische, dem Wechsel der Gezeiten unterworfene Welt vor. Mit ihren Kugelaugen starren Schlammspringer die Eindringlinge an. Die kuriosen Fische können sich ihre Flossen an Land vertreten. Ein wohl noch nicht ganz wacher Weisskopfseeadler sticht aufs Meer hinunter, lässt Wasser aufspritzen und zieht mit leeren Fängen wieder von dannen. Verschwindend klein sind hingegen die Chancen, auch nur den Schwanz einer endemischen Wildkatze zu Gesicht zu bekommen. Sie wurde erst 1965 entdeckt und soll in dem knallgrünen Amazonasähnlichen Dschungel nur noch 150-mal vorkommen. Die Inselbewohner scheuen keine Mühen, um ihr Maskottchen vor seinem einzigen Feind, dem Auto, zu schützen. Das Tempo ist auf 40 km/h begrenzt, überall gibt es Verkehrsberuhigungen und Warnschilder und unter der Strasse wurden für die unsichtbaren, aber kostbaren Katzen Tunnels gegraben.

LEUCHTTURM VON HIRAKUBO.

Das Atlantis von Yonaguni

Am äussersten Südwesten der Ryukyu-Inseln ist Yonaguni der letzte Stein auf dem japanischen Spielbrett. Der Ausläufer eines Taifuns aus den Philippen hat den Pazifik in eine dunkelgrüne, nahezu dampfende Brühe verwandelt. Tokio ist so weit weg (2850 km) und Taiwan so nah (111 km), dass sich Yonaguni durchaus tropische Launen erlauben kann. Dunkle Brecher zerbersten in gewaltigen Gischtexplosionen. Es brodelt wie an schlechten Tagen in der Bretagne. Das Tauchboot wird von den Wellen hinund hergeschüttelt, der Kapitän aber gibt sich unbeeindruckt. Mit seiner Krücke – er hatte Kinderlähmung und verletzte sich bei einem Sturz von der Brücke – bewegt sich Mr. Atratake sicher an Deck und instruiert die Taucher, worauf sie unter Wasser achten müssen. Nach einigen Wirbeln werden sie von einer kräftigen und entschlossenen Strömung zu übereinanderliegenden Terrassen gespült, die von geraden Gräben durchzogen sind. Stufenförmig erheben sie sich im tiefblauen Meer auf einer Länge von fast 80 Metern und bilden dabei unerwartete rechte Winkel. Könnten dies die Überreste von Mu, dem verlorenen Kontinent des Pazifiks sein? Wissenschaftler erkennen in diesen Unterwasserstrukturen Verwandte der Maya-Pyramiden oder der Zikkuraten von Babylon, einer gewaltigen Stadt, die vor 5000 Jahren mitsamt Strassen, Treppen, Sphinx und Triumphbögen vom Meer verschluckt wurde. Andere wiederum sehen die stufenförmigen Gebilde als klassische Standstein Stratigrafie und Resultat tektonischer Bewegungen. Zurück an Bord werden die triefenden Taucher von Mr. Aratake in Empfang genommen. Er erzählt ihnen, wie er sein Atlantis an einem schönen Tag im Jahr 1986 auf der Suche nach neuen Tauchspots gefunden hat. «Ich habe noch immer Gänsehaut», lacht er und zeigt seinen Vorderarm, auf dem die Haare zu Berge stehen.


Praktische Infos

Anreise

ANA, die mit fünf Sternen klassierte grösste japanische Fluggesellschaft, fliegt täglich für rund 750 € (inkl. MWST, Hinund Rückflug mit Zwischenstopp in Frankfurt oder München) von Genf nach Tokio Haneda. Ishigaki wird zweimal täglich von Tokio angeflogen, ab 90 € pro Flug, ana.co.jp/de

Formalitäten

Schweizerinnen und Schweizer brauchen einen bis zum Rückreisedatum gültigen Pass. Für Aufenthalte unter drei Monaten wird kein Visum benötigt.

Beste Reisezeit

Am heissesten ist es im Juli und August mit Lufttemperaturen um die 28°C und Wassertemperaturen zwischen 28° und 29°C. Von Juni bis September treten häufig Taifune auf. Am meisten regnet es zwischen Mitte Mai und Mitte Juni. Das Klima ist auch im Winter mild. Sogar im Februar, dem kältesten Monat, liegt die Durchschnittstemperatur bei 20°C und die Wassertemperatur sinkt kaum einmal unter 21°C.

Für massgeschneiderte Reisen und/oder Törns my charter, info@mycharter.ch, mycharter.ch

Übernachten

Nest Iriomote. Hübsches Gästezimmer im Norden der Insel. Es wird vom Tourguide Naoya Ojima geführt, der Kajaktouren und Waldspaziergänge organisiert. Die drei modernen Zimmer grenzen an einen grossen Pool. 15 000 ¥ (120 €) pro Person mit Frühstück. Tel.: +81 (0)90 2497 0463, iriomote-osanpo.com

DER WASSERFALL PINAI-SARA.