Umspült von den Wellen des weltgrössten Ozeans umschliesst das Rangiroa-Atoll eine traumhafte Lagune von riesigen Ausmassen. Die gewaltige Wasserfläche innerhalb des Korallenriffs lockt mit ruhigem Wasser und dem Versprechen unvergesslicher Erlebnisse.

Text: Erwann Lefilleul
Fotos: Bertrand Duquenne

Unbarmherzig brennt die Sonne auf das spiegelglatte Meer. Abgesehen von schweren Kumuluswolken ist der Horizont leer: kein Land und kein Segel in Sicht. Unser Katamaran Dream Rangiroa befindet sich zwar mitten im Pazifik, trotzdem liegen die Rümpfe ruhig auf dem Wasser. Keine einzige lange Welle bringt das Schiff zum Schaukeln. Man könnte meinen, man kreuze auf einem See.

Wir segeln in einem überdimensionalen Hafenbecken. An seiner längsten Stelle misst das 79 Quadratkilometer grosse Binnenmeer 43, an seiner breitesten 17 Seemeilen. Die ganze Insel Tahiti würde hineinpassen. Rangiroa beansprucht so viel Platz, dass es nach Kwajalein auf den Marshall-Inseln die zweitgrösste Lagune der Welt bildet.
So gediegen wie sich die Lagune präsentiert, so gemütlich sind auch wir unterwegs. Der normalerweise als Kabinencharter angebotene Lagoon 62 ist ein schwimmendes Wohnzimmer. Mein langjähriger Reisebegleiter Bertrand und ich haben Glück: Wir teilen uns den Kat mit einer fröhliche Truppe von Polynesien-Fans.

Wasser, so weit das Auge reicht

Der Tuamotu-Archipel, insbesondere Rangiroa, ist zwar in der internationalen Segelgemeinschaft ein Begriff und auch in der Taucherszene wegen der Tiputa-Riffpassage weltberühmt, trotzdem sind wir allein auf weiter Flur. Beim Ablegen dümpelten in nicht allzu grosser Ferne noch ein paar wenige Segelboote auf dem Meer, aber seither nichts mehr. Wir bewegen uns auf einem aus der Zeit gefallenen Revier, das mitten im Ozean ein Eigenleben zu führen scheint.

NICHTS WIE LOS: KAUM IST DER ANKER GEWORFEN, GIBT DIE CREW DEM UNWIDERSTEHLICHEN DRANG NACH, DAS PARADIES ZU ERKUNDEN.

Schon als vor den Fenstern des Flugzeugs die ersten Umrisse des Atolls auftauchten, fielen uns die krassen Gegensätze auf. Schiere Unendlichkeit trifft auf Kleinräumigkeit, Kraft auf Zerbrechlichkeit. Ein dünner, flacher Streifen Festland, auf dem ein paar wenige Menschen gestrandet sind, zieht sich durchs Wasser. Hier hat das Meer das Sagen. Auch aus dem Flugzeug ist es unmöglich, die gesamte Lagune zu überblicken und zwischen Ozean und Lagune zu unterscheiden. Einzig die gegen die schützenden Korallen schäumende Brandung verrät die Grenze. Um sich ein Bild über die marine Ausprägung Rangiroas zu machen, darf man sich nicht auf den Umfang des Korallenrings (200 Kilometer!) verlassen. Massgebend ist die Breite und die beträgt gerade einmal 300 Meter. Die insgesamt 240 Motus, wie die kleinen Riffinseln eines Atolls genannt werden, sind nicht wie vielerorts weitläufig verstreut. Einen eigenen Hochsee-Mikrokosmos bildend liegen sie auf zwei Gruppen verteilt eng beieinander.

Wie alle Inselbewohner am Ende der Welt ist auch unser Skipper Moana gewohnt, abgeschieden und auf sich selbst gestellt zu leben, und wie viele gibt er sich anfangs eher zurückhaltend und einsilbig. Durch seine Adern fliesst Salzwasser, er und das Meer sind untrennbar miteinander verbunden. Natürlich kennt er das Gebiet, das er seit seiner frühesten Kindheit schon unzählige Male erkundet hat, bis in den hintersten Winkel. Früher arbeitete Moana als Chef von Tagesausflugsbooten, vor vier Jahren wurde er als Skipper des Dream Rangiroa angeheuert. Auf der ersten 22-SeemeilenFahrt nach Südwesten sucht Moana die Meeresoberfläche aufmerksam nach wechselnden Blautönen ab. Sie verraten die Anwesenheit von Untiefen, die jedem Boot zum Verhängnis werden können. Technisch ist die Navigation in der Lagune nicht schwierig, man muss aber vor den vielen, auf den Karten nicht eingezeichneten Korallengruppen auf der Hut sein. Das Meer ist meist sehr gut befahrbar, die ganzjährig mässigen Passatwinde aus Nordost bis Südost verursachen aber doch kurze Wellen. Wenn aus Südost der Mara’amu aufkommt und starken Regen mit sich bringt, können die Wellen sogar auf über einen Meter anschwellen. Der Passat beeinträchtigt nicht nur den Komfort, sondern manchmal auch die Sicherheit der Ankerplätze im westlichen, dem Wind ausgesetzten Teil des Atolls. In der Blauen Lagune kann man daher nur sehr selten übernachten. Der paradiesische Flecken, dessen von Kokospalmen gezeichneter Umriss sich vor unseren Rümpfen abzeichnet, gilt als Highlight von Rangiroa.

DAS PRIVILEG VON SEGLERINNEN UND SEGLERN: DER ANKERPLATZ AM RAND DER BLAUEN LAGUNE IST IN DIESER FRÜHEN MORGENSTUNDE MENSCHENLEER. DIE TOURISTENSCHAREN KOMMEN ERST SPÄTER.

«Sorry, so ist Rangi eben!»

Umgeben von Motus, die über weisse Sandstrände miteinander verbunden sind, leuchten die Blautöne einer Lagune um die Wette. Ganz hinten befindet sich die Kinderstube von Haien, dorthin gelangt man allerdings nur mit SUPs und Kajaks. Als wir in ihre Nähe kommen, stieben die jungen Wilden aufgeregt auseinander. Wer den – völlig harmlosen – Raubfischen nicht zu nahe kommen möchte, kann auch einfach gemütlich paddelnd die Lagune umrunden oder sich bis zu ein paar abgelegenen Inseln vorwagen, wo angriffslustige Seeschwalben- und Tölpelkolonien versuchen, die Menschen auf Distanz zu halten. Ein paar Kabellängen weiter sticht uns ein Korallenteppich ins tauchmaskengeschützte Auge. Als wollten sie sich von den arm-, bein- und gesichtslosen Tierchen nicht die Schau stehlen lassen, versuchen Schwarzspitzenhaie unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen und setzen zu einem faszinierend-furiosen Kreistanz an. Überglücklich kehren wir zu Moana zurück. Als der in unsere strahlenden Gesichter blickt, meint er lapidar: «Sorry, so ist Rangi eben!» Verdutzt schauen wir ihn an. Beim Anblick unserer entgeisterten Mienen bricht er in schallendes Gelächter aus. Seine Ironie hat funktioniert! Der Seemann taut langsam auf und bringt uns mit seinem trockenen Humor immer häufiger zum Lachen.

Die Blaue Lagune lockt viele Ausflugsboote und Touristenscharen an. Die meisten strömen zu einem Motu, das mit Tischen und Grillstellen unter offenen Holzhütten, sogenannten Carbets, ausgestattet ist. Davor wimmelt es geradezu von Mantarochen, Haien und Fischschwärmen, die dank der grosszügig verteilten Köder eine richtige Show abziehen. Da sich der Wind während unseres gesamten Törns ausnahmsweise nicht meldet, können wir die Power unseres 62-Fuss-Kats nicht testen. Dafür bietet uns die Flaute den Luxus, über Nacht keinen geschützten Ort aufsuchen zu müssen. Mitte Nachmittag, als die Schnellboote schnurstracks wieder Richtung Norden zu den Hotels und Pensionen aufbrechen, sind wir auf einen Schlag allein und können die Schönheit des Ortes in vollen Zügen geniessen. Ein theatralischer Himmel mit nahezu unwirklichen Rottönen beendet den ereignisreichen Tag. Die tiefschwarze Nacht taucht uns ohne Vorwarnung.