Im Winter treffen sich einige Schweizer Speed-Freaks auf gefrorenen Seen zum Plausch- und Regattasegeln. 2020 befand sich der Hotspot der Eissegler allerdings
in Schweden, denn dort fand die Weltmeisterschaft der DN-Schlitten statt. Viele Weltklasseregatteure sind bekennende Fans dieser flotten Flitzer.

Text und Fotos: Gilles Morelle

Den richtigen See zu finden ist eine Kunst. Die Eisdecke muss sechs bis acht Zentimeter dick sein, darf keine zu grossen Risse aufweisen und sollte schneefrei sein, weil die Kufen sonst im Verhältnis zur Geschwindigkeit zu stark gebremst werden. Wind braucht es natürlich auch, ideal
sind 6 bis 20 Knoten.

Schlitten & Co

Der DN-Schlitten ist eine Seifenkiste mit Mast, Planke, Hinterkufen, Steuerkufe, Segel und
drei bis vier Schrauben. Klingt simpel, doch ganz so einfach ist das Ganze dann doch nicht. Den Trimm muss man sich eher wie auf einem AC72 als wie auf einem Laser vorstellen. Neben der Position des Mastfusses und der Wantenspannung spielt auch die Belastung des Baums eine grosse Rolle, denn sie beeinflusst das Biegeverhalten und die Drehung des Masts. Ein weiteres zentrales Element sind die Kufen. Es gibt sie in zig verschiedenen Ausführungen. Länge, Profil und Dicke werden der Beschaffenheit des Eises und den Windverhältnissen angepasst, während die Temperatur und die Feuchtigkeit des Eises das Material der Kufen bestimmen. Kein Wunder, führe DNisten stets etliche geschliffene Kufen in ihrem Kofferraum mit.

PHILIPPE CARDIS AM STEUER DER Z-28

OK Corral!

Je länger ich den Eisseglern zuschaue, desto mehr kribbelt es mich in den Fingern. Ich geniesse es, mitten im Winter die mir so geläufigen Handgriffe auszuführen: den Schäkel am Oberliek einklicken, das Segel hissen, die Blöcke installieren, die Schot einführen und das Rigg spannen. Wenig später ist das Boot segelfertig. Und der Pilot? Ich bitte den zwölffachen Weltmeister Karol Jablonski aus Polen um einen letzten Rat. Seine lakonische Antwort: «My only advice is that there is no brake!» Wie soll ich das verstehen? «Das wirst du schon sehen», meint er. Die Pinne und die Schot in der einen, die Want in der anderen Hand, stosse ich den Schlitten an. Nicht allzu fest, sonst fährt er ohne mich los. Ich springe auf die Läuferplanke und setze mich ins Cockpit. Ist das Segel erst einmal gesetzt, bleibt wenig Platz. Was mir als erstes auffällt, ist der Lärm, den das Gefährt verursacht. Die Kufen klappern auf dem unebenen Eis und der Wind pfeift durch den Helm. Die Pinne reagiert äusserst fein und das Boot fährt wie auf Schienen. Ich werde immer zuversichtlicher, gebe mehr Segel und werde durchgeschüttelt wie auf einer Achterbahn. Eingeengt durch den Baum verkrieche ich mich etwas mehr ins Cockpit. Das Boot beschleunigt. So wenige Zentimeter über dem Eis zu liegen ist ein berauschendes Gefühl. Das Adrenalin macht mich ganz benommen, doch ich muss konzentriert bleiben. Mithilfe der Spione finde ich zwischen zwei Wenden den richtigen Winkel am Wind. Nach dem Abfallen, bei dem der Tacho beinahe explodiert, liegt die grösste Schwierigkeit darin, vor dem Wind eine gute VMG zu erreichen. Wie auf einem Sportkatamaran kommt es auf das richtige Verhältnis zwischen Wind und Tempo an. Auf äussere Hilfe kann man hier jedoch nicht zählen. Keine Welle zeigt die Windrichtung und kein Kräuseln das Aufkommen eines Lüftchens an. Der Mast biegt sich unter der Wucht der Böen. Ich segle nach Gefühl. Die erste Halse gleicht einer Kür. Keine Ahnung, wann der Baum angesichts der so fein reagierenden Pinne im stürmischen Wind auf die andere Seite schlägt Ein paar Halsen später habe ich den Dreh langsam raus. Das richtige Tempo zu finden erfordert viel Fingerspitzengefühl. Nach einer weiteren Runde schmerzt mein Hals. Jetzt weiss ich auch, warum Eissegler ihren Helm mit einem Gummiband befestigen: Sie stützen damit die Halswirbel. Ich beschliesse, in die Box zurückzukehren und begreife plötzlich, was Karol mit seinem Ratschlag gemeint hat. Aufgrund der geringen Reibung der Kufen auf dem Eis lässt sich der Schlitten nicht durch Fieren des Segels bremsen.

50 DN AM START: WIE BEIM 24-STUNDEN-RENNEN VON LE MANS SPRINTEN DIE SEGLER BEIM START ZU
IHREN SCHLITTEN. IHRE STARTPOSITION WIRD DABEI ANHAND DER ZIELEINFAHRT DES LETZTEN LAUFS
BESTIMMT. WER BEIM ANSTOSSEN GANZ VORNE IST, HAT EINEN GROSSEN PSYCHOLOGISCHEN VORTEIL.

Vielmehr muss man den Bug in den Wind drehen, das Segel back halten und die Füsse aufs Eis drücken. Bei meiner ersten Fahrt habe ich bescheidene 28 Knoten erreicht. Ich bin also weit entfernt von den bei geübten Eisseglern üblichen 40 Knoten und noch weiter vom Wettkampfrekord, der bei 60 Knoten liegt. Trotzdem schwebe ich auf Wolke sieben. Ich komme garantiert wieder!

Eine Lebensphilosophie

Beim Eissegeln kommt man schnell mit anderen Skippern ins Gespräch, denn im Gegensatz zum «normalen» Segeln kann man ganz einfach aus dem Boot aussteigen und sich unterhalten. Jeder kennt jeden, alle duzen sich und freuen sich jeweils auf ein Wiedersehen. Dass Eissegler eine eingeschworene Gemeinschaft bilden, ist wichtig für die Ausübung des Sports. In den Newsgruppen der Social Media werden Informationen über den Zustand gefrorener Seen, Wetterbedingungen und weitere wichtige Details ausgetauscht. Eine Gruppe ist in der Schweiz besonders aktiv. Ihre informative und unterhaltsame Plattform wird für offizielle und inoffizielle Bekanntmachungen, Fotowettbewerbe und für witzige Posts genutzt.

Eissegler sind relativ viel unterwegs. Sie reisen überall dorthin, wo es zugefrorene Seen gibt: zum Lac des Rousses im französischen Jura, zum Reschensee im Südtirol, an andere Seen in Europa, aber auch nach Russland. Ein besonders reizvolles Revier ist die Region um den Polarkreis. Dort lernt man neue Kulturen kennen, kann das Nordlicht bewundern, die gefrorenen Seen bestaunen und nachts dem Geräusch des Eises lauschen. Ein Erlebnis der ganz besonderen Art! Wenn Sie sich fürs Eissegeln interessieren, besuchen Sie die Website der Schweizer Eissegelflotte (iceboat.ch) und finden Sie heraus, wer hinter den Nummern Z-39, Z-28, Z-47, Z-29, Z-124 usw. steckt – lauter Segler nämlich, die im Sommer an Regatten ganz vorne mitmischen. Entlarven Sie die Tempofreaks, suchen Sie das Gespräch und vereinbaren Sie für nächsten Winter einen Termin für eine Testfahrt. Aber Vorsicht: Eissegeln macht süchtig! Wer das Virus erst einmal eingefangen hat, wird es so schnell nicht wieder los.


Ausrüstung

Ein gebrauchter DN-Schlitten, eine Kombination aus Segel- und Wintersportbekleidung, viel mehr braucht es zum Eissegeln eigentlich nicht. Fügen Sie dieser Grundausstattung rutschfeste Sohlen mit Spikes, eine Gummischnur am Helm und einen Eispickel für die nötige Sicherheit hinzu und schon kann es losgehen. Eissegeln auf gefrorenen Seen ist nicht ungefährlich. Eine Kenterung und eine Wasserung können katastrophale Folgen haben. Wie bei jedem Outdoorsport sollte man nie allein unterwegs sein, die Wetterbedingungen checken und den Zustand der Eisfläche prüfen, bevor man sich darauf wagt.

DIE SCHWEIZER PATROUILLE IN ENGER FORMATION