Beim Inselhüpfen ist der Weg oft das Ziel. Unterwegs erlebt man unendlich viel und begegnet einer Menge spannender Menschen. Französisch-Polynesien ist in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes. Jeder der fünf Archipele hat seine eigene Kultur und Mikrogesellschaft. So unterschiedlich die einzelnen Inseln sind, etwas verbindet sie alle: Ihre Bewohner haben ein grosses Herz. Dank ihrer liebenswürdigen Art fühlt man sich gut aufgehoben. Wer es versteht zuzuhören, zu geniessen und sich Zeit zu nehmen, wird Unvergessliches erleben.
Text und Fotos: Julien Girardot
Dieses dritte und letzte Kapitel ist eine Reise zu den Menschen, die das authentische, sanfte und zugleich brutale Polynesien bevölkern. Kommen Sie mit auf die Gambierinseln, zu leidenschaftlichen Fischern und unerschrockenen Perlenzüchtern. Folgen Sie mir auf das Toau-Atoll im Tuamotu-Archipel und lernen Sie die fröhliche Truppe der Anse Amiault kennen. Laurent Bourgnon war an diesem paradiesischen Ort ein gern gesehener Gast. Seine Freunde, ein Haufen originelle Gestalten, leben hier im Rhythmus des Meeres, der Fische und der Langustenfischerei.
Zurück auf den Gambierinseln, sechs Jahre später
Im November 2017 treffe ich mich in Rikitea mit einer Freundin, der Seglerin und Journalistin Charlotte Guillemot. Sie kreuzt mit einer Sun Odyssey 35 durch den Pazifik. Vor drei Monaten ist sie von den Antillen über Panama zu den Gambierinseln gesegelt und hatte seither Zeit, sich mit der Lagune und den Inselbewohnern anzufreunden. Das Besondere an dem Archipel: Sämtliche der insgesamt zwölf hohen Inseln befinden sich innerhalb des Korallengürtels. Wir steuern sie alle an.
Tepano
In Rikitea gibt es jemanden, den ich wiedersehen möchte. Tepano gehört zu den Dorfältesten. Ich habe ihn kennengelernt, als ich 2011 mit der Tara hier war (siehe Kapitel 1). Sein sanfter Blick und sein forsches Wesen erinnerten mich an den Fischer aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer. Wir hatten den eigenwilligen Zeitgenossen angeheuert, weil niemand die Lagune und ihre unzähligen Korallengruppen besser kannte als er. Er wies uns mit seinem Fischerboot den Weg und sorgte dafür, dass wir auf unserem Schoner sicher vorankamen. Mehr als einmal machte er uns sprachlos. Einmal kam er von einem kleinen, unbewohnten Atoll namens Temoe zurück. In seinem Boot lagen vier riesige Wahoo. Sein Kommentar: «Nicht gut, kein Fisch»! Sein Boot hatte er auf dem Riff dieses Atolls rund 25 Seemeilen von den Gambierinseln gefunden. Zusammen mit ein paar Freunden befreite er es aus den Korallen und machte es wieder fahrtüchtig. Laut Tepona handelt es sich um das Dinghi eines japanischen Fischerboots, das auf offenem Meer verloren gegangen war und wie ein Geschenk in Temoe gestrandet ist. Ich suche im Dorf nach ihm. Er sei 2012 an Krebs gestorben, sagt man uns. Charlotte und ich erkundigen uns nach seinen Angehörigen, denn ich möchte ihnen ein paar Fotos von Tepano schenken. Wir treffen uns mit seinem jüngsten Sohn Félicien. Er arbeitet wie sein Vater als Fischer und hat auch dessen Wissen geerbt. Schon als Kind holte er mit seinem Vater die Netze vor den Klippen von Temoe ein. Nach dem Tod des Patriarchen kehrte er schweren Herzens wieder aufs Meer zurück. Irgendwie musste er ja seinen Lebensunterhalt verdienen. Sechs Monate konnte er sich nicht überwinden, mit der japanischen Barke hinauszufahren.
Der junge Mann und das Meer
Féliciens Geschichte berührte mich so, dass ich sie weitererzählen wollte. Die Menschen sollten mehr über sein Familienerbe und seine enge Beziehung zum Meer erfahren. Um wirklich zu verstehen, was ihn mit dem Ozean verbindet, gab es nur eins: Ich musste ihn nach Temoe begleiten. «Normalerweise nehme ich nur Wissenschaftler mit nach Temoe, denn die Fahrt ist gefährlich», gab er mir zu verstehen. Für mich machte er aber eine Ausnahme: «Du hast meinen Vater gekannt und bringst Erinnerungen zurück. Daher lass uns das gemeinsam in seinem Andenken tun.» Gesagt, getan. Mit einer Hand am Steuer und einem alten Kompass in der anderen nimmt Félicien Kurs auf das unbewohnte Atoll. Sein bester Freund Mahei begleitet uns in einem zweiten Boot. Vor Ort müssen wir das Riff passieren. Die Wellen krachen mit so ohrenbetäubendem Getöse dagegen, dass wir uns schon zu Wurstfleisch zermalmt sehen. Etwas eingeschüchtert legen wir unser Schicksal in Féliciens Hände. Er sagt nicht viel, doch seine unerschütterliche Gelassenheit beschwichtigt uns. Mit pragmatischer Ruhe wartet er eine gute Stunde, bis sich die Wogen glätten und gibt dann grünes Licht. Unversehrt fahren wir in die Lagune, steuern ein kleines Motu an und schlagen dort unser Lager auf.
Schiffbrüchige
Am zweiten Tag erfahren wir, dass unsere Expedition im Dorf nicht unbemerkt geblieben ist. Inspiriert von unserem Plan beschliessen zwei junge Männer aus Rikitea kurz nach unserer Abfahrt, ebenfalls nach Temeo aufzubrechen. Sie sehen nicht ein, warum ihnen das Vorhaben nicht auch gelingen sollte. Das Abenteuer ist einfach zu verlockend. Allein der Gedanke, mit einem einzigen Netz Langusten für zwei Wochen zu fangen, lohnt für sie das Wagnis. Es zeigt sich aber schnell, dass sich die beiden Heisssporne verkalkuliert haben. Ohne Erfahrung ist die Überfahrt schlicht nicht machbar. Ihr Boot wird von einer Riesenwelle mitgerissen, die sie ins Innere des Riffs schleudert. Der Motor wird zertrümmert, das Boot kippt und die Beine bluten. Félicien meint nachsichtig: «Sie hatten grosses Glück, aber ich verstehe, dass sie das Vorhaben gereizt hat.» Nachdem wir die beiden Schiffbrüchigen an einem einsamen Strand entdeckt haben, schleppen wir ihr Boot bis zu unserem Lager und nehmen sie für die Nacht zu uns. Am nächsten Tag frischt der Wind auf. Wir müssen weg. Schnell bauen wir unser Lager ab und verstauen die Kühlboxen voller Fische im Boot. In die Lagune zu gelangen ist das eine, gegen die Wellen wieder hinauszufahren nochmal etwas ganz anderes! Einer der beiden Schiffbrüchigen hätte an den Korallen beinahe sein Leben gelassen. Er wurde von einer zweiten Welle erfasst, hatte aber Glück im Unglück, denn er kam mit Verletzungen und einem Schock davon. Nach vier endlosen Stunden sind wir alle ausser Gefahr und bereit für den Heimweg. Wir müssen unserem Schutzengel Félicien ein Kränzchen winden! Bei diesem Erlebnis fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Die symbiotische Beziehung zwischen Félicien und dem Meer hat viel mit Tepano zu tun. Félicien spürt die Anwesenheit seines Vaters. Tepano hilft ihm, das Meer zu lesen und jedes Mal das unsichtbare Tor zu Temoe zu finden.
Das Reich der schwarzen Perle
Keine andere Farm im Tuamotu-Archipel bringt so schöne und glänzende Perlen hervor wie jene der Gambierinseln. Das liegt an den idealen Bedingungen. Auf dem 23. südlichen Breitengrad ist die Durchschnittstemperatur niedriger als irgendwo sonst in Polynesien und das Wasser klar und nährstoffreich. Ausserdem wird es im Riff durch die zahlreichen Durchlässe fortlaufend erneuert. Hier fühlt sich die schwarzlippige Perlmuschel (Pinctada margaritifera) pudelwohl. Innerhalb von 18 Monaten bildet die Auster um den von Menschenhand implantierten Nukleus eine Perle. Einige sind perfekt rund, andere unregelmässig oder oval. Ihre Farbpalette reicht von Aubergine, Pfauenfeder, Champagner, Grün und Grau bis hin zu Silber. Jede Perle ist ein Unikat, das durch die Zusammenarbeit von Mensch und Natur entsteht. Mit Leidenschaft und Fachwissen helfen die Perlenzüchter dem Wunder der Natur künstlich nach. Neunzig Perlfarmen teilen sich die Lagune. Die meisten der 1500 Bewohner arbeiten in der Perlenzucht. Jede Farm ist anders, manche besitzen mehrere Dutzende Hektar grosse Konzessionen und beschäftigen ebenso viele Angestellte. Andere sind klein und ernähren nur ein paar wenige Familien.
Auf der gleichen Wellenlänge
Charlotte und ich versuchen mehr über den Alltag der Perlenzüchter zu erfahren. Bei unseren Recherchen treffen wir auf Rémy, seine Frau Louise und seine Schwester Tutana. Rémy, ein Franzose, ist auf dem Segelboot seiner Eltern im Pazifik aufgewachsen. Später lernte sein Vater eine polynesische Frau kennen, die ihre gemeinsame Tochter Tutana zur Welt brachte. Vor ein paar Jahren verliebte sich Rémy in die Paumotu Louise. Zwischen den drei stimmt die Chemie. Sie verstehen sich so gut, dass sie beschlossen, gemeinsam ins Perlengeschäft einzusteigen. Da sie nur wenig Geld zur Verfügung hatten, beschränkten sie sich aufs Nötigste. Mit wenigen Mitteln bauten sie eine winzige, in der Lagune verankerte Plattform, die den Elementen schutzlos ausgesetzt ist. Die drei bilden eine gut funktionierende Gemeinschaft, in der jeder seine Aufgabe hat. Rémy holt die Perlmuscheln aus mehr als zehn Metern Tiefe an die Oberfläche. Ein anstrengender Job, für den man topfit sein muss. «Das tägliche Tauchen gehört zu meiner Arbeit», sagt Rémy. «Ich kenne jeden Bewohner des Reviers. Die Haie haben mich akzeptiert, sie wissen, dass ich sie in Ruhe lasse. Wenn ich die Muscheln hochhole, lösen sich viele Nährstoffe. Das lassen sich die Fische nicht entgehen, so einfach kommen sie sonst nicht an ihr Fressen. Ich erkenne sogar die eine oder andere Muräne oder Languste. Das hier ist meine Welt. Ich liebe meinen Beruf, auch wenn er körperlich noch so anstrengend ist.»
Auf dem Boot stapeln Tutana und Louise die Netze auf der kleinen Plattform. Dort sammeln sie die Perlen ein und säubern die Muscheln, bevor sie sie wieder im Wasser versenken. Die drei produzieren ausschliesslich hochwertige Perlen. Beim Verkauf erhalten sie Unterstützung von der wirtschaftlichen Interessenvereinigung GIE, die ihnen für den Grosshandel in Tahiti die besten Kunden vermittelt. Die Perlenzucht ist eine beschwerliche Arbeit, die sich aber durchaus lohnen kann. «Wir möchten wenn möglich mit 40 in Rente gehen», erklärt uns Rémy in aller Ernsthaftigkeit. Aus den minderwertigen Perlen stellen Tutana und Louise Schmuck her. Sie verkaufen ihre Kreationen an die wenigen Touristen, an Freizeitsegler auf der Durchreise und vor allem an die Inselbewohnerinnen, die sich am Sonntagmorgen gern schön machen. Die glückliche, entschlossene Jugend nötigt Respekt ab. Sie sorgt in den Lagunen Polynesiens für frischen Wind. Indem sie die Traditionen fortführt, erhält sie die Inseln am Leben.
Langusten und eine Kirche
Wenn man nordwestlich der Gambierinseln durch den Tuamotu-Archipel fährt, kommt man an vielen verlassenen Atollen vorbei. Die von Leben erfüllten ringförmigen Korallenriffe reichen teilweise mehr als 3000 Meter unter die Wasseroberfläche und bilden lauter eigene Welten. Auf den Archipel verteilt gibt es 76 davon. Auf einigen wurden Dörfer mit entsprechender Infrastruktur errichtet, wie auf Fakarava, einem Weltklasse-Tauchspot, auf dem 800 Menschen hauptsächlich vom Tourismus leben. Andere, wie Toau im Norden, sind nur sehr spärlich besiedelt. Hier, in Anse Amiault, lernte ich das glückliche «Piratenpaar» Valentine und Gaston kennen.
Gaston ist für die Langustenbänke zuständig, Valentine zaubert für Segler am Ankerplatz Mahlzeiten wie in einem Vier-Sterne-Restaurant. Die Besitzerin ist nicht auf den Mund gefallen und bringt die Gäste mit ihrer Schlagfertigkeit bei jeder Gelegenheit zum Lachen. Auf demselben Motu, nur hundert Meter entfernt, kümmern sich Jean Snow und seine Arbeiter um die Fischparks. Zweimal wöchentlich versorgen sie die Einwohner und Hotels von Fakarava mit frischem Fisch. Auf dem Motu bleibt man in der Familie: Jean ist Valentines Neffe. Die beiden Clans verstehen sich hervorragend und verbringen teilweise auch die Freizeit gemeinsam, dennoch wahren sie ihre Unabhängigkeit, die auf einer so kleinen Insel besonders wichtig ist. Was die Bewohner des Motu Matariva mit dem Rest der Welt verbindet, sind die vor Anker liegenden Segelboote. Sonntags legt Valentine ihre Restaurantkluft ab und verwandelt sich in eine Priesterin. In der evangelischen Kirche der Pfingstbewegung – einem einfachen, mit einem Kreuz verzierten Sperrholzverschlag – hält sie eine Messe, während sie von Gaston auf der Ukulele begleitet wird. Wenn Valentine predigt, wendet sie sich direkt an das Publikum. Sie wirkt dabei wie besessen. «Wie viele Tiere sind in Noes Arche?», will sie von einem Teilnehmer wissen. «Sag einen Vers aus der Bibel auswendig auf!» verlangt sie von einem anderen. Ich habe mich an diesem Morgen in der Kirche von Toau ganz klein gemacht. Für die Fahrtensegler sind die Messen ein Ereignis, das sie sich nicht entgehen lassen.
Toau hat Gemeinsamkeiten mit einem Zeichentrick-Universum. Der Haifisch fangende Hund Rocky, der zahme Fregattvogel Momo und das Krustentier Varo, das dem Film Alien als Vorbild diente und zu den schnellsten Bewegungen im gesamten Tierreich fähig ist, gehören zur Inselprominenz. Vielleicht war das der Grund für Valentines Frage zur Arche Noah? Wenn man Toau verlässt, muss man sich erst einmal kneifen. Hat man das alles wirklich erlebt oder nur geträumt? Die Begegnungen mit den Inselbewohnern machen uns reicher. Hier kann man am echten Leben der Polynesier teilhaben und von ihnen lernen. Sie haben etwas bewahrt, was vielen von uns abhandengekommen ist: Gastfreundschaft, Grosszügigkeit und Demut. Die Menschen wachsen uns ans Herz. Ich wünsche allen, dass sie einmal einen polynesischen Segeltörn erleben dürfen, denn diese teilweise aus der Zeit gefallenen Inseln schenken uns eine Auszeit vom Wahnsinn der Welt. Und auch wenn jeden Bewohner einmal das «Fiu»-Fieber packt und er dem Paradies vorübergehend den Rücken kehrt, sie kommen alle wieder gern zurück und geniessen die Leichtigkeit des Insellebens.
ENDE
Praktische Tipps
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