Cannareos-Archipel
Fans von Törns 2.0 sollten einen grossen Bogen um Kuba machen. Elektronische Hilfen, üppigen Proviant und Luxus-Marinas sucht man hier vergeblich. Dafür duftet die karibische Insel herrlich nach Abenteuer und verspricht Erlebnisse einer anderen Art, ausserhalb von Raum und Zeit.
Text: Erwann Lefilleul
Fotos: Bertrand Duquenne
Das menschenleere Meer wirkt, als hätte es die brennende Sonne blank geschliffen. Seit einer gefühlten Ewigkeit schon hat sich die drückende Hitze bis in die hintersten Ecken unseres Katamarans geschlichen. Der träge Wind lässt auf keine Besserung hoffen. Nur ein schwacher Fahrtwind – Motor sei Dank – verschafft uns ein wenig Luft. Jeder noch so kleine Flecken Schatten an Bord ist Gold wert! Im Juli kann die Karibik ein Fegefeuer sein. Man geht durch die Hölle wie der heldenhafte Santiago aus Ernest Hemingways Der alte Mann und das Meer, der auf diesem Gewässer todesmutig gegen einen Marlin und die Elemente kämpfte.
Wir hatten uns die schwierigste Zeit des Jahres mit verrückten Temperaturen und einer schier unerträglichen Luftfeuchtigkeit ausgesucht. In unseren vollen Terminkalendern war aber schlicht kein anderer Zeitraum mehr frei. Und schliesslich hat die Nebensaison ja auch den Vorteil, dass die Ankerplätze und Sehenswürdigkeit weniger überlaufen sind.
Kuba wie es leibt und lebt
Auf unserer Reise herrscht von Anfang an eine besondere Stimmung, die vom Aufeinandertreffen unserer Vorstellungen mit der Realität genährt wird. Schon nach wenigen Schritten auf kubanischem Boden am internationalen Flughafen José Martí erwartet uns eine Geduldsprobe. Zur Begrüssung müssen wir eine epische Zollabfertigung über uns ergehen lassen: vier
Stunden für eine einfache Gepäckkontrolle. Wir werden von einem Zollbeamten zum nächsten verwiesen, nie ist es der richtige. Zusammen mit uns erleben unzählige Einheimische das gleiche nächtliche Possenspiel. Immerhin bietet uns das Miteinander Gelegenheit, den Puls einer Bevölkerung zu fühlen, die sich ihrem Schicksal fügt, aber meisterliche Fähigkeiten entwickelt hat, das staatliche Räderwerk zu umgehen und die den Besuchern liebenswürdig und wohlwollend ihre Hilfe anbietet.
Kuba ist ein Land in der Schwebe, festgefahren in einer nahezu absurden geopolitischen Situation, gebeutelt von ideologischen Standpunkten und unverhältnismässigem Embargo. Wer nicht genau hinschaut, erhält den Eindruck, das Land pflege die Revolutionsromantik, der es sein Image verdankt. Überall prangen Slogans an den Mauern und hängen übergrosse Abbildungen von Che, als wolle Kuba seine Legende am Leben erhalten. Dieses Zurschaustellen ist aber vor allem für Touristen gedacht. Abgekapselt in einer Welt, die von einem «wohlwollenden Autoritarismus» regiert wird, mussten die Kubaner lernen damit – oder eher ohne – zurechtzukommen. Sie haben sich mit der Situation arrangiert und wissen sich mit viel Einfallsreichtum und List, dem berühmten «Invento», zu helfen.
Der vielbeschriebene Eindruck, Kuba sei in der Nachkriegszeit stehen geblieben, bewahrheitet sich bereits bei unserer Ankunft. In den Zimmern des staatlichen Hotels am Rande von Havanna im unverkennbaren sowjetischen Stil vermögen die Vorhänge die lange Liste der dringend nötigen Renovationsarbeiten nicht mehr zu verbergen. Restaurants und Privatunterkünfte sind wie in den 1950er-Jahren dekoriert, anstelle der fehlenden öffentlichen Verkehrsmittel gehen an jeder Ecke aufdringliche Taxifahrer auf Kundenfang, museumsreife und zu unendlichem Leben verdammte US-Schlitten umschiffen gekonnt die unzähligen Schlaglöcher und in den Lebensmittelgeschäften herrscht Knappheit, über die auch die mit lang haltbaren Esswaren vollgestellten Regale nicht hinwegtäuschen können.
Unter genauer Beobachtung
Hier ein Stempel, dort eine Unterschrift: Die Formalitäten in Kuba sind langwierig und mühsam. Wir merken schnell, dass man die Marina Marlin in Cienfuegos, wo neben Dream Yacht Charter weitere Chartergesellschaften ihren Stützpunkt haben, nicht einfach so verlässt. Zwei Einwanderungsbeamte in adretten Uniformen statten uns einen Besuch ab. Betont förmlich – schliesslich üben sie eine wichtige Funktion aus – überprüfen sie mit akribischer Genauigkeit unsere Pässe, Visa, Borddokumente und vor allem das detaillierte Törnprogramm, bevor sie uns mit wichtiger Miene die für unseren Törn unverzichtbare Clearance aus- händigen.
Unsere ersten Seemeilen sind praktisch vorgegeben, denn der Bewegungsradius ist eng bemessen. Die Hafenstadt Cienfugos mit dem von der UNESO zum Weltkulturerbe erklärten historischen Zentrum liegt in einer grossen Bucht am Ende einer schmalen Mündung. Sich treiben zu lassen ist hier nicht erlaubt. Wehe, man kommt vom Kurs ab oder wagt gar zu ankern! Im bebakten Fahrwasser trifft man kaum auf Einheimische, es sei denn auf ein paar Fischer, die auf kleinen, aus Abfallholz oder gar Styropor zusammengebastelten Platten balancieren. Der Zugang zum Meer wird vom Staat streng kontrolliert, um jegliche Fluchtoder Schmuggelversuche im Keim zu ersticken. Sogar in der Nähe der Buchtausfahrt sind etliche Bereiche für den Schiffsverkehr gesperrt.
Uns bleibt nichts anderes übrig, als die erste Insel auf unserem Weg anzusteuern. Eine andere Möglichkeit gibt es innerhalb der ersten vierzig Seemeilen nicht. Auf einem unbequemen, trotz Windstille unruhigen Meer absolvieren wir unsere Feuertaufe in einem Revier, in dem die Sonne über eine Welt ohne Schatten herrscht. Mit Ausnahme eines Katamarans in weiter Ferne ist der Horizont komplett leer. Unter dem Sonnensegel oder am Fuss der ausgerollten Genua kauernd lassen die sechs Teammitglieder, darunter drei müde Kinder, die Zeit verstreichen, den Blick auf die ersehnte Insel gerichtet.
Doch Cayo Guano del Este überzeugt uns nicht. Der auf unserem Programm offiziell genehmigte Zwischenstopp entpuppt sich als eine wenig einladende, mit Guano zugekleisterte Felszunge. Einzig der rot-weiss-gestreifte Leuchtturm weckt unser Interesse. Obwohl die Kinder protestieren, sie seien heute schon genug gesegelt, beschliessen wir, acht weitere Seemeilen anzuhängen und vor Einbruch der Dunkelheit bis zu den bei- den Inseln Cayos de Dios zu fahren. Unser Entschluss zahlt sich nicht aus. Die Insel ist ebenso karg wie die erste, darüber hinaus liegt der Ankerplatz direkt im Wind.
Lieblicher Cannareos-Archipel
Nach diesen Enttäuschungen freuen wir uns umso mehr auf das riesige Plateau, das uns die nächsten Tage als Revier dient. Da die Meerestiefe von mehreren hundert Metern auf ein paar Armbreiten geschmolzen ist, hat sich auch der Wellengang gelegt. Allmählich kehrt Leben zurück. Seeschwalben, Aztekenmöven, Fregattvögel und vorbeihuschende Schildkröten begrüssen den grossen Katamaran. Der Can- nareos-Archipel erstreckt sich von Osten nach Westen und liegt über einer hauptsächlich sandigen Untiefe, die mit einigen Korallengruppen gespickt ist. Im Süden der Inseln schwankt die Meerestiefe zwischen ein und vier Metern, der von Mangroven und Krokodilen bevölkerte Norden hingegen ist mit seiner Tiefe von weniger als einem Meter nicht befahrbar.
Die einzige Zufahrt zum Archipel führt aus Clearance-Gründen über die längliche Cayo Largo. Ihr einsamer Ankerplatz in Playa Tortuga an der Ostspitze der Insel ist genau das, wonach wir gesucht haben, und ein Vorgeschmack auf die vielen weiteren Schätze, die uns erwarten. Beim Anblick des kristallklaren Wassers und des weissen Sandstrands ist unsere Lethargie wie verschwunden. Vergessen ist die Müdigkeit der langen Fahrt in der sengenden Hitze. Voller Tatendrang begeben wir uns auf Entdeckungstour.
Trotz der Ausgelassenheit behalten wir einen klaren Kopf. Unüberlegtes Segeln kann hier fatale Folgen haben. Überall lauern Sandbänke und Korallengruppen. Im Seebuch wird vor der Ungenauigkeit der elektronischen Karten gewarnt und empfohlen, sich in erster Linie an die Papierkarten zu halten. Viele Korallengruppen seien nicht vermerkt und die Angabe der Was- sertiefe könne sehr ungenau sein. Bei so vielen Unwägbarkeiten bleibt nur das Segeln auf Sicht, das Echolot stets im Blick. So vermeiden wir auch unliebsame Überraschungen, wenn mitten in den markierten Zo- nen plötzlich Hinterhalte auftauchen.
Für die Formalitäten, die uns irgendwie ständig verfolgen, müssen wir in die Marina von Cayo Largo. Die bescheidene Ortschaft hat sich voll und ganz dem Tourismus verschrieben und verleitet nicht wirklich zu einem längeren Aufenthalt. Viel mehr als einen kleinen Lebensmittelladen, in dem man sich mit dem Allernötigsten versorgen kann, eine Schildkrö- ten-Brutstätte und das auf Pfählen errichtete Restaurant El Pirato mit seinen Tarpunen-Schwärmen bietet das Dorf nicht. Die an den Stegen festgemachten Tauchboote deuten allerdings darauf hin, dass hier in der Hochsaison deutlich mehr Betrieb herrscht.
Die Seele baumeln lassen
Obwohl unser Programm mit viel Brimborium genehmigt wurde, passen wir es immer wieder an. Diese Freiheit darf man sich nehmen, solange man das Clearance-Protokoll der Ankünfte und Abfahrten einhält und sich nicht in verbotene Zonen wie die berühmte Schweinebucht vorwagt. Der Canarreos-Archipel erstreckt sich über mehrere Dutzend Seemeilen. Wenn wir unserem Entdeckerdrang nachgeben würden, müssten wir unseren Kindern täglich mehrstündige Etappen antun, denn wir haben nur eine Woche Zeit und die reicht nie und nimmer, um alle Sehenswürdigkeiten anzusteuern. Da ein Törn aber vor allem Spass machen soll, verzichten wir auf die Unterwasserwelt von Cayo Rosario und die Affen, die auf den Stränden von Cayo Campos herumtoben.
Statt stundenlang zu segeln, geniessen wir die Zeit und das Nichtstun und begnügen uns mit Katzensprüngen von zwei bis drei Meilen. So können wir jeden Abend an den gleichen Ankerplatz im Lee von Cayo Hijo de Los Ballenos, einer winzigen Insel abseits von Cayo Rico, zurückkehren und auf dem glasklaren Wasser mit einem Glas Mojito in der Hand den Sonnenuntergang bestaunen. Unsere Routine macht uns glücklich. Wir beglückwünschen uns jeden Abend von Neuem für unsere Entscheidung. Auch strategisch ist unser Ankerplatz ein Glückstreffer. Nachts weht ein sanfter, etwas kühlerer Wind, wir sind weit genug von den Mangroven und ihrer Mückenplage entfernt und werden von vielen Gewittern verschont.
Der Himmel, von der Julisonne zur Weissglut getrieben und von Feuchtigkeit erdrückt, macht seinem Zorn jede Nacht Luft. Mit erstaunlicher Regelmässigkeit beginnt das Feuerwerk jeweils auf der grossen Insel Kuba. Ein infernalisches Spektakel setzt den Horizont in Brand, gewaltige Blitze entladen sich mit weissen, roten oder violetten Farbexplosionen. Dann zieht das Gewitter weiter, bald schon kracht und leuchtet der ganze Archipel. Manchmal kommt es uns sehr nahe, angekündigt durch sintflutartigen Regen. Wir Erwachsene sitzen mit eingezogenen Köpfen einsatzbereit, aber machtlos im Salon und warten, bis der Zorn des Himmels verraucht ist.
Weit weg von allem
Nach der Aufregung der Gewitternacht kehrt unter dem reingewaschenen Himmel wieder Ruhe ein. Wir nutzen die Gelegenheit zum Schnorcheln. Wenige Flossenschläge von unserem Boot entfernt erwarten uns Felstiefen, wo Bullenhaie ihre Runden drehen und zarte Gorgonien synchron mit ihren Fächern wedeln. Ein paar Meter weiter wachsen fantastische Korallen- gruppen, um die herum sich Zackenbarsche, Barrakudas, Langusten, Schildkröten und im- posante Makrelen tummeln.
Wir bereuen unsere Entscheidung nicht, dass wir unsere Segelambitionen heruntergeschraubt haben. Die Umgebung von Cayo Largo bietet sowohl für uns Erwachsene als auch für die Kinder genug Abwechslung. In den mehrere Dutzend Meter breiten Badewannen, die von den knapp ein Fuss über die Wasseroberfläche ragenden Sandbänken gebildet werden, lässt es sich herrlich plantschen und spielen. An der steil abfallenden Sandzunge von Punta Sirena können wir die Buge unseres gestrandeten 45-Fuss-Kolosses gut freischaufeln. Auf Cayo Rico leben wir unseren Entdeckerdrang aus und suchen in der brütenden Hitze nach Leguanen. Die furchtsamen, aber unberechenbaren Echsen verstecken sich zwischen aufgetürmtem Vulkangestein und hinter kümmerlichen Büschen.
Immer neue Schätze bereichern unseren wunderbaren Törn. Wir sind ganz für uns und schätzen die Einsamkeit. Ganze drei Charterboote haben wir in der glühenden Sommerhitze gekreuzt. Unsere einzigen menschlichen Begegnungen sind die Clearance-Beamten in Cayo Largo und die Leuchtturmwärter in Cayo Guano del Este. Doch genau das macht unseren Törn so besonders, so kubanisch und ganz anders als Segeln 2.0 mit allen seinen Annehmlichkeiten. Die Versorgungsmöglichkeiten sind äusserst begrenzt, die kartografischen Daten unzuverlässig, der Kompass verwaist im Kartentisch, Funkverbindung ist so gut wie keine vorhanden und Internet nur eine Schimäre. Perfekte Voraussetzungen, um die Inseln aus einer anderen Zeit ungestört zu geniessen.
Die Kultur dieser betörenden karibischen Nation muss warten, bis wir wieder festen Boden unter den Füssen haben. In Havanna ist es dann aber höchste Zeit, in die lebendige Altstadt mit ihren bunten Fassaden einzutauchen, über die schattigen Alleen des Prado zu schlendern, die Abendstimmung am Malécon mit den vielen Musikern und Tänzern zu erleben, das quirlige Treiben in den Arbeitervierteln zu bestaunen und den Charme dieses reizvollen, einzigartigen Landes bis zur letzten Sekunde auszukosten.