In den Lagunen verkehren heute praktisch nur noch Motorboote. Die einzigen Segel am Horizont der Tuamotu stammen von den Pop’a – den Blauwasserseglern oder Südseevagabunden. Diese traurige Feststellung hat in mir einen leicht verrückten Plan geweckt: Ich habe mir in den Kopf gesetzt, die vergessene Tradition der Segelpirogen im französisch polynesischen Atoll Fakarava wieder zum Leben zu erwecken. Auslöser für das Projekt Va’a Motu war die Begegnung mit Ato Lissant, einem waschechten Paumotu, der seinen Lebensunterhalt als Fischer und Hotelbetreiber verdient. Bei der Umsetzung des verwegenen Vorhabens durchlebte ich viele Hochs und Tiefs. Doch die Wette, dass es mir gelingen würde, habe ich gewonnen.
Text und Fotos: Julien Girardot
Als Ende der 1950er-Jahre der erste Aussenborder mit Soldaten des atomaren Versuchszentrums im Pazifik (CEP) anrückte, kam es zu einem regelrechten «Boom». Im Zuge der gewaltigen Arbeitskräftenachfrage floss viel Geld und die polynesischen Familien kamen zu Wohlstand. Segeln ging im Konsumstrudel unter, es passte nicht mehr zum modernen Komfort. Auf den Atollen, wo sozusagen alles Mangelware ist, wurden mit den letzten Brettern der Pirogen die polynesischen Hütten repariert. So sind auch die letzten Reste verschwunden. Dabei hatte sich die Tradition lange gehalten. Erst die Atombombentests bereiteten ihr ein Ende.
Unter einem guten Stern
Die Historiker sind sich weitgehend einig: Die polynesischen Inseln wurden vor vielen Tausend Jahren von einem Volk besiedelt, das aus der Gegend von Taiwan stammte. Sie waren ausgeschwärmt, um mit ihren raffinierten Katamaranen ohne Ballast neue Lebensräume zu erobern. Als die ersten europäischen Seefahrer in die Region vorstiessen, staunten sie über die seltsamen Gefährte. Sie hatten noch nie zuvor Mehrrumpfboote gesehen! An Bord der grossen Pahi mit Krabbenklauensegeln setzten sich die Seefahrer den Elementen aus. Sie orientierten sich dabei an den Sternen, beobachteten Vögel, Wellen und Wolken und hielten die Nase in den Wind, um Gerüche zu erkennen, die ihnen nahe gelegenes Land verrieten. Generation für Generation schärften sie ihre Sinne, um sich im unendlich grossen Pazifik zurechtzufinden, im polynesischen Dreieck von einer Insel zu nächsten zu gelangen und sich dort niederzulassen oder die Nachbarn zu bekriegen. Mich faszinierten diese spannende Seefahrergeschichte und das polynesische Leben so sehr, dass ich mit Ato die Pirogenwette abschloss. Ich wollte schnellstmöglich dorthin zurückkehren, um gemeinsam mit den Inselbewohnern eine Reise zurück in ihre jahrtausendealte Kultur anzutreten.
Bereit zum Abflug
November 2011. Tara setzt mich auf Hawaii ab (siehe Kapitel 1). Ich kehre nach Frankreich zurück, fest entschlossen, schnellstmöglich wieder nach Polynesien zu reisen. Es gelingt mir, einen Termin bei Jean-Marc Hastings, dem Direktor der Fluggesellschaft Air Tahiti Nui, zu ergattern. Voller Tatendrang betrete ich die vornehme Pariser Wohnung am Boulevard St-Germain, 16 000 Kilometer von Tahiti entfernt. «Warten Sie hier, Herr Hastings wird Sie empfangen», werde ich gebeten. Der Direktor gibt mir eine Chance. Ich verlasse die Wohnung mit einem Flugticket. Dieses Treffen ist der Anfang einer langen Zusammenarbeit mit dem tahitianischen Unternehmen.
Zurück in Fakarava
Februar 2012. Ich bin zurück in Fakarava und fahre sofort zu Ato. Wir freuen uns beide über das Wiedersehen. In kürzester Zeit gründen wir einen Verein und legen das Fundament für das Projekt. In Papeete stellen wir unsere Ideen vor. Die Piroge soll für verschiedene Zwecke eingesetzt werden: für Bildungsprogramme in der Schule von Fakarava, Ökotourismus und wissenschaftliche Vorhaben. Forscher der Tara werden kleine Tierarten in der Lagune erfassen und mithilfe von Drachen und Unterwasserkameras eine 3D-Karte des Korallenriffs erstellen. Nicht zuletzt soll die Piroge den Einwohnern helfen, das traditionelle Segeln wieder zu erlernen. Eine ganze Reihe Termine enden erfolgreich: Mehrere tahitianische Institutionen und Unternehmen sagen uns ihre Unterstützung zu.
Die richtigen Leute finden
Um alles richtig zu machen, brauchen wir einen Architekten und einen Bootsbauer, denn das Dossier untersteht der Aufsicht der Schifffahrtsbehörde. Bei meinen Recherchen stosse ich auf den Namen Alexandre Genton. Er baute 2010 eine solide, 50 Fuss lange Va’a Motu, deren Plan vom ortsansässigen Konstrukteur Nicolas Gruet stammte. O’Tahiti Nui Freedom überquerte den Pazifik mit einer polynesischen Besatzung. Die Reise auf den Spuren ihrer Vorfahren von Tahiti nach Schanghai sei episch, anthropologisch und spirituell gewesen, berichteten die Teilnehmer. Kein Zweifel, das Tandem Genton/Gruet ist genau das, was wir brauchen.
Trügerischer Charme
Die Dorfältesten sind die letzten, die die Zeit der Segelpirogen noch erlebt haben. Mit ihnen halten wir Kriegsrat. Sie erläutern uns ihre Vorstellungen und wählen einen Namen für das Boot. Anschliessend skizzieren wir einen ersten Entwurf der Te Maru O Havaiki («die verborgene Schönheit des Paradieses»), einem 30 Fuss langen Va’a Motu mit Gaffeltakelung und einem Ama (Ausleger).abenteuerliches Vorhaben lösen helle Begeisterung aus. Fünf Partner (Segel, Tauwerk, Beschläge…) sichern uns ihre Unterstützung zu. Der Messebesuch ist ein voller Erfolg.
Alex
Zurück in Tahiti treffe ich endlich Alexandre Genton. Als ich ihm von der Va’ Motu erzähle, schmunzelt er. Der Bau von Pirogen sei seine Leidenschaft. Er baue seit vielen Jahren kleine Ruder- und Segelboote aus Verbundwerkstoffen und Holz. Wir beschliessen, uns für ein Projekt zusammenzutun. Ein Hotel in Bora Bora möchte ein Modell im polynesischen Look erwerben. Mir bietet diese Anfrage die Chance, erstmals mit einem erfahrenen Bootsbauer zu arbeiten. Nach zwei Monaten ist die Piroge mit Bretterschalung fertig. Jetzt verstehe ich, was mir der alte Seebär, dem ich vor langer Zeit in Saint-Malo begegnet bin, mitteilen wollte, als er zu mir sagte: «Glaub’ mir, die beste Art, im Bootsbau Millionär zu werden, ist als Milliardär zu beginnen!» In unserem Fall hatte er definitiv recht. Doch was ich bei diesem Abenteuer erlebt und gelernt habe, ist viel mehr wert als Geld.
Es kommt Bewegung in die Sache
Ein Jahr ist seit der Pariser Bootsmesse vergangen. Uns fehlt noch immer das nötige Geld, um mit dem Bau zu beginnen. Eine Hoffnung aber bleibt: Wir reisen erneut nach Paris, um uns dem neuen Stiftungsfonds Explore anzuschliessen. Unter der Schirmherrschaft des bekannten Seglers Roland Jourdain unterstützt der Fonds innovative Projekte rund um das Meer und den Energiewandel. Explore gelingt es, die «Agence des Aires Marines Protégées» (dt. Agentur für Meeresschutzgebiete) als Geldgeber zu gewinnen. Endlich kön wir Nägel mit Köpfen machen und dazu noch mit einem so renommierten Partner! Wie so oft kommt eine gute Nachricht selten allein. Auch die in Neuseeland ansässige Fondation Okeanos sagt uns ihre Hilfe zu. Sie hat acht hochseetaugliche, 70 Fuss lange Segelpirogen gebaut, die Kulturverbänden in den Ländern des polynesischen Dreiecks zur Verfügung gestellt werden. Ausserdem experimentiert Okeanos mit einem Frachtprogramm auf kleineren Booten. Mit einer dieser Segelpirogen transportieren wir das Baumaterial für unsere eigene Piroge von Tahiti nach Fakarava. Ein würdiger Einstieg in unser Projekt.
Der Bau
Sechs Monate bauen wir in einem eigens dazu errichteten Zelt. James und Toko, zwei junge Männer aus dem Dorf, helfen uns dabei. Die Arbeit ist oft mühselig, die brütende Hitze und der strömende Regen machen uns zu schaffen. Jede Spiere nimmt unendlich viel Zeit in Anspruch. In den Tropen unter freiem Himmel zu arbeiten ist nicht wirklich ideal, wir machen aber das Beste draus. Alex ist solche Aufträge gewohnt und bekommt Hilfe von Toko, der sich als geborener Stratifizierer entpuppt. Toko arbeitet spät abends und kommt manchmal sogar samstags. Er will möglichst viel von Alex lernen. Die beiden freunden sich an. Ich erkenne Tokos Wissensdrang und schenke ihm ein paar Segelhefte, die bei mir zu Hause herumliegen. Zwei Tage später laufe ich im Dorf seiner Frau über den Weg. Lachend erzählt sie mir: «Seit Toko die Nase in seinen Büchern hat, darf ihn niemand stören. Er geht auch nicht mehr aus. Sein Leben besteht aus Weft, Lektüre, Werft, Lektüre…!» Nach stundenlangem Anspleissen, Schleifen und Hobeln sind alle Teile zusammengesetzt. Das Ziel ist plötzlich greifbar.
Emotionaler Moment
Am 14. Oktober 2015 wird die Piroge zu Wasser gelassen. Zur Bootstaufe hat sich die ganze Bevölkerung eingefunden. Schulkinder singen,
eine Gruppe tanzt und der Duft des reichen Blumenschmucks schwebt
in der Luft. Die Segnung beginnt bei leichtem Regen und endet damit,
dass der Priester anstelle von Champagner Kokoswasser über den Bugspriet giesst. Während der Bauarbeiten gaben sich die Inselbewohner
zurückhaltend. Sie jetzt alle vereint zu sehen zeigt uns, wie nahe ihnen
die Geschichte der Segelpirogen geht. Sie haben grossen Respekt vor
den Errungenschaften ihrer Vorfahren.
Langsam gleitet die Piroge in die Lagune, rutscht den Sleepway an der
Mole von Rotoava hinunter… und schwimmt! Bald schon ist das Gross
oben. Wir sind bereit für die erste Segelpirogenfahrt in der Lagune von
Fakarava seit den 1960er-Jahren. Mit unserem Verein haben wir gemeinsam ein Stück echter Inselgeschichte wiedererweckt.
Böses Erwachen
Alex hat seinen Auftrag erfüllt und kehrt nach Tahiti zurück. Die Euphorie über das fertiggestellte Projekt dauert leider nur kurz. Die Schifffahrtsbehörde stattet uns einen weiteren Besuch ab und führt einen Stabilitätstest durch. Das Resultat ist ein Schlag ins Gesicht. «Zu wackelig, das Ganze», lautet das Fazit. Völlig überraschend kommt das Urteil zwar nicht, aber dass es so hart ausfällt, hätten wir dennoch nicht gedacht. Toko, James, meine damalige Freundin und ich bilden die Besatzung. Wir merken schnell, dass die Piroge rasant unterwegs ist. Der fehlende Ausleger an Steuerbord fordert höchste Konzentration. Mehrmals kommen wir mit dem Schrecken davon. Ohne diese Stütze könnte das Boot leicht kippen. James darf sich mit seinen 120 Kilo nicht von der Stelle bewegen. Ein cooler Segelausflug, für den in einem Reiseprospekt geworben werden kann, sieht anders aus. Im Wind ist das Gefährt schwer zu handhaben, wir schwitzen Blut. Spass macht die Piroge dennoch, sie eignet sich einfach nicht für jede und jeden. Unser Plan erweist sich als unrealistisch. Wie sollen wir den Eltern der Kinder, mit denen wir segeln wollten, erklären, dass die Piroge kentern könnte, aber alles halb so schlimm ist, weil darauf segeln extrem Spass macht?!
Auf diese Ernüchterung folgt eine zweite – mit noch schlimmeren Folgen. Im Vereinsbüro haben sich zwei Clans gebildet. Ato sitzt zwischen den Stühlen. Die Differenzen scheinen unüberbrückbar, zu verschieden sind die Pläne der beiden Gruppen. Die Stimmung kippt, doch wir haben unseren Partnern gegenüber Verpflichtungen und können den Bettel nicht einfach hinschmeissen. Während drei Monaten segeln wir auf unserer Piroge vor einer Traumkulisse, als wäre es das Natürlichste der Welt. Fast täglich sind wir mit Atollbewohnern und Touristen unterwegs, nehmen Wissenschaftler an Bord und dokumentieren das Projekt für die Medienpartner. Es scheint alles bestens, doch wir wissen haargenau, dass es nur einen Weg gibt, unseren Prototyp vorschriftsmässig zu stabilisieren: Wir müssen ihn zu einem Trimaran umbauen. Eigentlich ganz einfach, doch im Büro navigieren wir in ebenso instabilen Gewässern wie auf der Piroge auf einem Backbordschlag. Alle Vorschläge werden abgeschmettert, wir versuchen es wieder und wieder – vergeblich. Einige blockieren, andere sind fassungslos. Unmöglich, unter solchen Voraussetzungen neues Geld aufzutreiben. Wir können uns nicht einigen. Bald schon muss ich Fakarava schweren Herzens verlassen: Das Ende stimmt mich traurig, gleichzeitig bin ich froh, etwas so Starkes erlebt zu haben. Ganz tief drin habe ich die Hoffnung trotz der schwierigen Umstände doch noch nicht ganz aufgegeben.
Schluss von Kapitel 2
Praktische Tipps
Reise-Infos
Für massgeschneiderte Reisen und/oder Törns:
my charter, info@mycharter.ch – mycharter.ch
Beste Reisezeit
Meiden Sie die Regenzeit von Ende November bis Anfang März. Im Juli und August weht häufig der Maramu, ein starker, frischer und böenartiger Südwind. Während des Maramu ist die Nordküste des Dorfes dem Wind ausgesetzt. Die besten Monate sind März bis Juni und September bis November. Von Juli bis November sind in der Lagune manchmal Buckelwale zu sehen.
Anreise
Mit dem Flugzeug
Die Inlandflüge in Polynesien werden von Air Tahiti durchgeführt. Die Fluggesellschaft fliegt von Papeete mehrmals wöchentlich nach Fakarava.
Mit dem Frachtschiff
Mehrere Frachter fahren von Papeete in einem Rundkurs zu den Atollen. Einige von ihnen nehmen gewöhnlich (vor Corona) eine kleine Anzahl Passagiere an Bord. Einheimische haben aber Vorrang. Tickets können an der Mole Motu Uta in Papeete gebucht werden. Man muss viel Geduld mitbringen, wird dann aber mit einem unvergesslichen Erlebnis belohnt.
Als Mitsegler
Einige Internetseiten wie findacrew.net enthalten ein breites Angebot an Mitfahrgelegenheiten in Polynesien. Zahlreiche Bootseigner suchen nach Crewmitgliedern für die Überführung von einer Insel zur nächsten oder darüber hinaus. Ausserdem sind in Polynesien viele Charterunternehmen tätig.
Aktivitäten
Tauchen
Fakarava ist die Tauchdestination schlechthin. Das Wasser der tier- und pflanzenreichen Lagune wird über die beiden Meerespassagen jeden Tag erneuert. Die meisten Touristen kommen hierher zum Tauchen und Schnorcheln. Kein Wunder, die Unterwasserwelt bietet ein Wow-Erlebnis nach dem anderen. Alle Tauchzentren verfügen über erstklassiges Material und eine hervorragende Revierkenntnis. Ich persönlich empfehle das sympathische Tauchzentrum Kaina Plongée von Vincent Perceval. Er taucht seit mehr als 25 Jahren in der Region. Fakarava und die fünf angrenzenden Atolle bilden ein von der UNESCO geschütztes Biosphärenreservat.
Velotouren
Auf der Insel gibt es mehrere Velovermieter. Die vollkommen flache Route wird als «die schönste Polynesiens» bezeichnet. Sie werden schnell herausfinden, warum. Der Gegenwind kann manchmal etwas mühsam sein, aber es gibt nichts Besseres, um in das Inselleben einzutauchen, als das Fahrrad!
Die Piroge Va’a Motu wieder segeltüchtig
machen
Wenn Ihnen die Geschichte gefallen hat und Sie ein wenig Zeit und viel Leidenschaft mitbringen, können Sie sich gerne an den Autor dieses Artikels wenden.
Übernachten
Auf Fakarava gibt es ein knappes Dutzend Hotels mit ortstypischen Bungalows und einer familiären Küche aus frischen Produkten. Wer es gerne luxuriös und komfortabel mag, findet in der Pension Havaiki Nui sein Glück. Es haben aber alle Pensionen ihren Charme. Für Romantiker und Einsamkeitsliebende bieten sich die auf Pfählen errichteten Bungalows in Tetamanu, im Süden der Insel, an. Sie werden von Annabelle und Sane betrieben, die auch eine Tauchschule leiten.