Auckland, Montag, 3. März 2003, fünf Uhr morgens. Weit entfernt von den Schweizer Seen und Bergen, in der Hitze einer subtropischen, endlosen Partynacht, gehen in einem Schweizer Chalet und in einem Karussell in Valencia die Lichter aus. Alinghi hat die Silberkanne nach Europa geholt und damit in der langjährigen Geschichte des America’s Cups ein neues Kapitel geschrieben.
Text: BERNARD SCHOPFER
Am Tag zuvor hatte Alinghi das geschafft, was kaum jemand für möglich gehalten hätte. Mit einem souveränen 5:1-Sieg hatte der Herausforderer aus dem kleinen Binnenland den Titelverteidiger Team New Zealand in die Knie gezwungen. Ein beispielhafter Sieg, ein historischer Erfolg und der glückliche Epilog einer dreijährigen Offensive.
Wie alles begann
Februar 2000. Als Ernesto Bertarelli zum 31. America’s Cup nach Neuseeland flog, um dem Duell zwischen dem legendären Team New Zealand unter der Leitung des Duos Peter Blake/ Russell Coutts und dem italienischen Challenger Prada beizuwohnen, hatte er einen Hintergedan-ken, kannte aber die Statistiken.
In der 150-jährigen Cupgeschichte waren alle Herausforderer bei ihrem ersten Versuch kläglich gescheitert. Und noch nie hatte ein europäisches Team gewonnen. Die berühmte Silberkanne ohne Boden hatte 139 Jahre in den USA verbracht, von 1852 bis 1983 sogar 132 Jahre am Stück. Australien war es 1983 als erster nichtamerikanischer Nation gelungen, den Pokal zu erobern. Nach einem erneuten kurzen Intermezzo in den USA holte ihn die formidable Seglernation Neuseeland wieder nach Ozeanien zurück. Wieso sollte also ausgerechnet das Binnenland Schweiz versuchen, das zu schaffen, was den Engländern, Spaniern, Schweden, Franzosen und Italienern schon so oft misslungen war?
Dazu muss man wissen: Der America’s Cup ist mehr als ein Sportevent, er ist ein Mythos, eine Legende, und verfügt über eine Strahlkraft, die weit über die sportliche Dimension hinausragt. Wer sich mit dem America’s Cup befasst, entdeckt fabelhafte Geschichten, macht sich mit Sir Thomas Lipton auf, die Teewelt zu erobern, erlebt mit der Familie Vanderbilt die glanzvolle Epoche der ersten Eisenbahnlinien in Amerika und stellt sich vor, wie Queen Victoria beim Sieg des Schoners America im Jahr 1851 auf ihre Frage, wer denn der Zweitplatzierte sei, die Antwort erhielt: «Eure Hoheit, es gibt keinen Zweiten».
Am Abend nach der dritten Regatta wurde Bertarelli in die Basis von Team New Zealand eingeladen. Die berühmte schwarze Jacht war zuvor siegreich in den Hafen eingelaufen. Russell Coutts stieg aus dem Boot und begab sich direkt zum täglichen Debriefing. Auf dem Weg in die Umkleidekabine begegnete er Ernesto Bertarelli zum ersten Mal. Die beiden schüttelten sich freundlich, aber distanziert die Hand.
Warum eigentlich nicht?
Mehrere Wochen vergingen. Der Sieg von Team New Zealand lag bereits weit zurück, aber in Bertarellis Kopf hatte sich der Gedanke festgesetzt, dass sich für ihn möglicherweise eine Chance auftat. Also rief er Russell Coutts an und fragte ihn, ob die Siegerjacht zu verkaufen sei. «Nein», antwortete der Skipper, aber wir könnten uns treffen. Lassen Sie uns unter vier Augen sprechen.» Es wurden schliesslich acht: die von Michel Bonnefous und Ernesto Bertarelli auf der einen und die von Russell Coutts und Brad Butterworth auf der anderen Seite.
Das Treffen fand in New York statt. Es war die Prämisse eines grandiosen Vorhabens und der Anfang einer Freundschaft. Die vier schüttelten sich die Hände und blickten einander in die Augen. Vertrag und Unterschrift brauchten sie keine. Ein paar Minuten später liessen Bertarelli und Bonnefous die Champagnerkorken knallen und veranstalteten in ihrem Hotelzimmer einen Freudentanz. Am anderen Ende des Gangs stiessen Coutts und Butterworth auf ihr Glück an. Ein Team war entstanden. Ein Team, das alle vom Platz fegen sollte.
Eine neue Dimension
Ein Monat verging. Ernesto Bertarelli, Michel Bonnefous, Russell Coutts und Brad Butter- worth kamen in den neuen Büros von AC2003 an der Rue du Rhône in Genf zusammen. Flipcharts wurden vollgekritzelt, Begriffe gestrichen, andere hinzugefügt. Dann standen die Werte des künftigen Schweizer Challengers fest. «Wir wollen ein Team aufbauen, auf das man stolz sein kann, das in der Lage ist, den America’s Cup zu gewinnen und das andere inspiriert», hiess es.
In den ersten Sommermonaten 2000 wurde das Syndikat von fünf auf 30 Mitglieder aufgestockt. Mit Designer Rolf Vrolijk und dem vierfachen Olympiamedaillengewinner Jochen Schümann stiessen zwei Schlüsselelemente dazu. Michel Hodara übernahm das Marketingund Kommunikationsteam und definierte die strategischen Grundlagen. Mit dem Bau der Segelboote wurde die Werft Décision SA von Bertrand Cardis und Jean-Marie Fragnière beauftragt.
Einen Monat später traf sich das noch unvollständige Syndikat ein weiteres Mal in Genf. Die weltbesten Spezialisten aller relevanten Bereiche wurden aufgeboten. Im Hotel Starling neben dem Flughafen war das Who’s who der internationalen Segelszene versammelt: Segelmacher, Meteorologen, Ingenieure, Schiffsbauer, Leistungsanalytiker und Fachleute für Verbundwerkstoffe. Und die ersten «Muskelpakete» wurden auch gesichtet.
Rolf Vrolijk erklärte, wie er es anstel- len wollte, das beste Boot zu entwerfen. Jochen Schümann plante die Rekrutierung, teilte die Positionen zu, und diskutierte die Kompetenzen der Protagonisten. Sein organisiertes, methodisches Vorgehen unterschied sich radikal vom kreativen, intuitiven Genie der Neuseeländer. Schümann erstellte einen Zeitplan und ein Programm. Die Kiwis redeten wenig, arbeiteten präzis und fachkompetent. Brad Butterworth überblickte das Ganze mit strategischem Weitblick. Russell Coutts gab klar und unmissverständlich den Ton an. Er setzte sich in allen mit dem Wettkampf verbundenen Bereichen natürlich als Teamchef durch. Langsam entstand eine Alchemie, in der die Schweizer ihren Platz finden mussten.
Pierre-Yves Jorand war einer von ihnen. Der Mehrrumpfpionier vom Genfersee hatte zahlreiche Hightech-Projekte gemanagt, bevor ihn Bertarelli zum Stammskipper und Projektleiter aller seiner Multihulls machte. Auch die anderen Schweizer im Team – Luc Dubois, der Miterfinder der 3DL-Segel, Weltklasse-Offshoresegler Christian Scherrer, Enrico De Maria, der mitten in der Olympiavorbereitung steckte, Bertrand Cardis und viele andere – konnten eine erfolgreiche Karriere vorweisen. Den Kiwis konnten sie aber nicht das Wasser reichen. Erschwerend kam hinzu, dass sie einander nicht kannten.
Um diesen Mangel zu beheben, wurden Team-Building-Anlässe organisiert. Für den entscheidenden Durchbruch sorgte ein Winterausflug in einen Klettergarten. Beim anschliessenden Raclette-Essen schlugen sich die Amerikaner die Bäuche voll. Nach einem halben Dutzend Portionen protestierten sie: «Wann kommen endlich das Steak und die Pommes-Frites?!». Das Eis war gebrochen.
«Wir wollen ein Team aufbauen, auf das man stolz sein kann, das in der Lage ist, den America’s Cup zu gewinnen und das andere inspiriert.»
In aller Öffentlichkeit
Die erste strategische Entscheidung bestand in der Anschaffung der SUI 59, der ehema- ligen Be Happy des Schweizer Challengers FAST 2000 von Marc Pajot. Sie wurde sofort in die Werft gegeben, um den Doppelkiel zu entfernen und sie für die Bedürfnisse von Alinghi fit zu machen. Währenddessen richtete sich das Syndikat in der Basis des ehemaligen Herausforderers France in Sète ein, wo intensiv trainiert und eine Vorausauswahl des Segelteams getroffen wurde.
Spätestens jetzt wurde den Neuseeländern bewusst, welche Gefahr von Alinghi ausging. Sie erklärten dem Syndikat den Krieg. Unter dem Vorwand, dass die Schweiz an kein Meer und keinen Meeresarm grenze, wollte die Royal New Zealand Yacht Squadron Alinghi die Teilnahme verwehren. Sie berief sich dabei auf die 1857 verfasste Gründungsurkunde des America’s Cups. Der wahre Grund aber war wohl, dass der Jachtclub und halb Neuseeland Coutts und seiner Leibgarde (Brad Butterworth, Simon Daubney, Warwick Fleury, Dean Phipps) eins auswischen wollten, schliesslich waren sie zu einem Schweizer Milliardär übergelaufen und hatten damit Hochverrat begangen. Die Neuseeländer würden mit allen Mitteln zu verhindern versuchen, dass ihre Landsmänner den Cup für ein fremdes Land eroberten.
Beide Seiten heuerten strategische Berater an. Sie engagierten diskrete, effiziente Geheimagenten und Juristen, die jede noch so kleine Finesse des America’s Cups kannten. Alinghi startete eine Kommandoaktion in Auckland. Die Strategie war simpel: Es galt Team New Zealand zu schonen, das als Handlanger der RNZYS die Manöver ausführte, dafür aber das direkte Umfeld dort zu treffen, wo es wehtat, nämlich bei den Unternehmen, potenziellen Sponsoren und den politischen Behörden.
Die Vertreter des Schweizer Teams ergatterten eine Einladung zu einem Business Lunch der neuseeländischen Handelskammer, an dem rund hundert Firmenchefs und hochran- gige Politiker anwesend waren. Bertarelli hielt eine brillante Rede und brachte das ihm grundsätzlich feindlich gestimmte Publikum sogar zum Lachen. «Als ich meiner Frau sagte, dass ich nach Neuseeland reisen würde, meinte sie, ich solle mich vor den Haien in Acht nehmen. Ich habe schnell gemerkt, dass sich die gefährlichen Haie nicht im Wasser, sondern an Land tummeln.»
Die Delegation hatte unmissverständlich klar gemacht: Alinghi war ein legitimer Herausforderer, ihm aus unerfindlichen Gründen die Teilnahme zu verweigern, war nicht vertretbar. Niemand konnte der Schweiz absprechen, dass sie eine echte Segelnation mit veritablen Seglern und Bootsbauern ist. Sie hat schliesslich auch den Weltverband des Segelsports ISAF, heute World Sailing, mitbegründet und wird in der Segelwelt respektiert. Und auch die für eine Teilnahme entscheidende Voraussetzung, dass der Herausfordererclub, d.h. die Société Nautique de Genève (SNG), eine Regatta auf dem Meer durchführen muss, war erfüllt.
Eine Woche später wurde Alinghi offiziell als «Challenger des 31. America’s Cups» angenommen. Jetzt war der Krieg vollends ausgebrochen. Das weitere Abenteuer glich einer militärischen Offensive.
Nachdem Alinghi den ganzen Winter auf zwei 8-Meter-Jachten vor der SNG trainiert hatte, reiste es zur Jubiläumsregatta des America’s Cups nach Cowes auf der Isle of Wight. Zu diesem famosen Anlass fanden sich die schönsten Segelboote der Welt ein. Alinghi fuhr an der Weltmeisterschaft der 12-Meter-Boote einen souveränen Sieg nach Hause.
Am Tag vor der Regatta machte Russell Coutts eine finstere Miene. Die Jacht war eindeutig zu luvgierig. Um das Gleichgewicht herzustellen, musste der Mast 15 Zentimeter weiter nach vorne versetzt werden. Das gesamte Team packte mit an, arbeitete die halbe Nacht im britischen Nieselregen und musste sich dabei mit dem Material begnügen, das vor Ort verfügbar war. Ein Kran gehörte nicht dazu. Gemeinsam schafften sie das schier Unmögliche.
Beim Team Building entstand eine Crew, die solidarisch war, Herausforde- rungen gemeinsam anpackte und sich dann auch den Sieg teilte.
Eine Woche später folgte die WM der Farr 40. Da sie im «Owner-Driver»-Modus gesegelt wurde, übernahm Bertarelli das Steuer. Coutts coachte ihn und gab ihm Tipps. Das Team konnte einen weiteren prestigeträchtigen Erfolg feiern.
Mit dem Sieg sandte das Schweizer Syndikat eine klare Botschaft an die anderen Chal- lenger und an den Defender Team New Zealand: Sie sollten sich besser vor diesem eigenartigen Team in Acht nehmen, das nicht davor zurückschreckte, ihnen sowohl auf dem juristischen als auch auf dem strategischen Parkett Paroli zu bieten, den technischen Herausforderungen gewachsen war und hochkarätig besetzte Regatten gewann.
Veni, vidi, vici
Nächster Schauplatz war Auckland. Team Alinghi, das mittlerweile jeder kannte und respektierte, baute eine neuartige Basis. Riesig, in Blassrosa, mit zwei geräumigen Bootsgaragen, Büros, Fitnessraum, Küche, Kantine, interaktivem Bereich für Besucher, grosser Terrasse und einer Lounge für Sponsoren, Freunde und Verwandte. Für den America’s-Cup-Zirkus, der sich bisher komplett von der Aussenwelt abgeschottet hatte und Geheimniskrämerei über alles liebte, war das ein Novum. Alinghi wollte einen offenen Wettkampf, bei dem bis zu einem gewissen Mass Gemeinsamkeit gelebt wird.
Monatelang wurde intensiv, konzentriert und methodisch trainiert und an den Booten gefeilt. Nichts wurde dem Zufall überlassen. Die Entscheidung um Sieg oder Niederlage fiel jetzt.
Inzwischen war das Syndikat auf 80 Personen angewachsen. Je näher der Cup rückte, desto mehr wurden es. Trotz der greifbaren Spannung war die Stimmung gut. Doch die von den glühendsten Anhängern des Defenders ferngesteuerten Medien kannten keine Gnade. Immer und immer wieder griffen sie Alinghi an. Zusätzlich geschürt wurde die Hetzkampagne durch die «Blackheart»-Bewegung der extrem aggressiven Ultra-Fans von Team New Zealand.
Alinghi dominierte den Louis Vuitton Cup, das Vorspiel des America’s Cups. Mit Ausnahme eines einzigen Laufs gewann das Schweizer Team sämtliche Matches gegen One World um Peter Gilmour.
Es folgten fünf dramatische Wettfahrten mit einem Wassereinbruch, einer Entmastung, einem gebrochenen Spibaum, verbissenen Duellen und einem eindeutigen Sieg für das Schweizer Syndikat.
Die Segler spürten sich nicht mehr. Nach zwei intensiven Jahren Vorbereitung und sechs Monaten Wettkampf war der unglaubliche Druck, der auf ihnen gelastet hatte, mit einem Schlag weg. Ihre ganze Anspannung brach aus ihnen heraus.
Das gesamte Team stürmte zu den Seglern, die sich auf dem Siegerboot dem Hafen näherten. Während die einen feierten, musste der gestürzte Defender in den sauren Apfel beissen und Alinghi den Pokal überreichen. Trainer, Ingenieure, Designer, Sekretäre, Segelmacher und Bootsbauer, alle stiegen auf die SUI 64 und fielen einander in die Arme. Sie schrien und weinten vor Freude. 50 Frauen und Männer schlugen mit aller Kraft im Takt gegen den Baum und sangen: «Wir haben gewonnen!»
Juni 2000 – März 2003: Drei Jahre dauerte die in der Geschichte des America’s Cups
einzigartige Offensive. Alinghi konnte die Silberkanne als erstes europäische Team in der 152-jährigen Cupgeschichte nach Europa holen und war gleichzeitig das erste
Syndikat, dem der Pokalsieg bereits beim ersten Anlauf gelang. Ein Erfolg auf ganzer Linie!