Im bretonischen Saint-Malo ist Segeln Alltag. Trotzdem wurde mir von klein auf eingebläut, ich solle mich vor dem Meer hüten. Es beschwor gefährliche Fantasien herauf. In meiner kindlichen Vorstellung durften sich nur unerschrockene Zeitgenossen aufs Wasser wagen. Der Ozean flösste mir Angst ein, auch wenn die vor meiner Heimatstadt festgemachten Schiffe meine Neugier weckten. An einem Segelkurs für Kinder schnupperte ich dann erstmals Meereswind

Text und fotos: Julien Girardot

Höhle der Freibeuter

In der Schule war ich der Pausenstärkste. Wenn der Unterricht draussen stattgefunden hätte, wäre meine schulische Karriere vielleicht anders verlaufen. So hatte ich auf dem Arbeitsmarkt nicht viele Alternativen. Also wurde ich Koch. Meine Chance erhielt ich auf einer Insel. Sie löste in mir etwas aus, das mein ganzes weiteres Leben bestimmen sollte. Cézembre ist ein winziges, der Korsarenstadt vorgelagertes Stück Land mit zwei von smaragdgrünem Wasser umspülten Buchten und einer sympathischen Kneipe, in der gegrillter Fisch und frischer Rosé serviert wurden. Am «Steuer» stand Franck Meslier, ein Weltenbummler mit einer starken Persönlichkeit und 1001 Geschichten auf Lager. Er und seine Frau führten das «Le Repaire des Corsaires» mit viel Herzblut. An Arbeit mangelte es auf der kleinen Insel nicht. Sie sei im Zweiten Weltkrieg pro Quadratmeter stärker bombardiert worden als Verdun, erzählte mir Franck. Mit 18 Jahren leistete ich auf Cézembre meinen persönlichen «Militärdienst». Ein Jahr später trampte ich mit vier Freunden nach Madagaskar und Réunion. Die drei abenteuerlichen Monate besiegelten meine Faszination für Inseln endgültig.

Während fast zehn Jahren arbeitete ich in der Küche, doch mit jeder Reise wurde meine Leidenschaft fürs Fotografieren stärker, bis ich mich schliesslich traute und einen Beruf ergriff, über den ich so gut wie nichts wusste.

Erste Schläge

2006 veröffentlichte ich meine ersten Fotos von der Route du Rhum. Ich verfolgte die Regatta hinter den Kulissen mit. Wenige Monate vor dem Start hatte ich die Bekanntschaft einer Profi-Skipperin gemacht, die sichauf das berühmte Transatlantikrennen vorbereitete. Ihre 50-Fuss-Carbonjacht sah aus wie ein Zwischending aus Schlitten und Rakete. Sie nahm mich oft mit aufs Wasser. Ich lernte auf dem schnellen Boot das Leben in Schräglage, die ersten Manöver und welche Fehler es zu vermeiden gilt. Mich faszinierte, wie gelassen die Segler mit Schwierigkeiten umgingen.Sie blieben auch beim grössten Sturm seelenruhig. Plötzlich wollte auch ich in See stechen, aber aus anderen Gründen als die Regatteure. Regattaboote machen zwar Spass, legen aber keine Zwischenstopps ein. Ich hingegen wollte mit Wind in den Segeln die Welt entdecken.

Tara

Die Pariser Bootsmesse 2008 markierte einen Wendepunkt. Ich begegnete Segelkoryphäen, Abenteurern, Geschäftsleuten und Visionären. Auf der Passerelle des Ausstellungszentrums zeigte der Fotograf Francis Latreille surreale Aufnahmen des Forschungsschiffs Tara, das im Nordpolarmeer, gefangen im Packeis, mehr als 2500 Kilometer weit trieb. Seit 2003 untersuchten Wissenschaftler auf dem 36 Meter langen Aluminiumschoner die Phänomene des Klimawandels und sensibilisierten die internationale Gemeinschaft für den Klimanotstand. Die neue Expedition Tara Oceans sollte in Lorient zu einer Weltumrundung starten, um von 2009 bis 2012 Plankton und Korallenriffe zu studieren. Die Organisation betrieb an der Bootsmesse einen Stand und ich ergatterte ein Vorstellungsgespräch. Die Plätze der Expeditionskorrespondenten waren leider bereits vergeben und meine spärliche Erfahrung reichte nicht aus, um die Verantwortlichen umzustimmen. Aber ich hatte Glück im Unglück. Sie suchten seefeste Köche. Eigentlich hatte ich meinem Beruf ja den Rücken gekehrt.Jetzt war gerade er es, der mir dieses grosse Abenteuer ermöglichte. Ironischerweise musste ich, um als Matrose anzuheuern, für zwei Monate die Schulbank drücken, denn selbst für den Job als Koch brauchte ich einen Hochseeschein. Als ich das Diplom frisch in der Tasche hatte, bot mir Romain Troublé ein zweimonatiges Praktikum in Lorient, dem Heimathafen des Schoners, an. Troublé war damals für das operative Management der Tara-Expeditionen zuständig, später übernahm er als CEO die Leitung der Tara-Stiftung. Sechs Monate nach dem Expeditionsstart im September 2009 flog ich nach Dschibuti, wo ich als offizielles Crewmitglied an Bord der Tara ging. Es folgten viele weitere Stationen: der Golf von Aden, Abu Dhabi, Oman, Mumbai, die Malediven und die Cargados-Carajos-Inseln. An Land und auf dem Wasser hatte ich stets meine Kameras dabei und bemühte mich, schneller zu sein als in der Küche. Man nannte mich den Küchengraf. Mein soziales Umfeld, mein Berufsleben und meine Leidenschaft waren im Einklang. Tara war meine höhere Bildung.

Rodrigues, der Wind als Motor

Nach vier unvergesslichen Monaten landete ich auf Mauritius. Sehr schnell verspürte ich den Wunsch weiterzuziehen. Ich hatte mir in den Kopf gesetzt, eine Reportage zu machen. Als ich die Landkarte aufklappte, stach mir die Nachbarinsel Rodrigues ins Auge. Ich mochte den Namen. Das winzige Stückchen Land wird auch «Anti-Stress-Insel» genannt. Ich nahm den ersten Flug. Vor Ort dokumentiere ich den Alltag der Fischer. Statt Benzin nutzten sie lieber den Wind, denn der ist unerschöpflich. Wenn immer möglich hissten sie die grossen Lateinersegel, oft bei mehr als 25 Knoten, und lieferten sich ein Wettrennen, um als erste die Fischgründe zu erreichen. Draussen zogen sie die Reusen hoch und machten sich mit langen Metalllanzen auf die Jagd nach der lokalen Spezialität, dem «Ourite» oder Tintenfisch. Ich wohnte bei Fischern und erlebte den Alltag hautnah mit. Wir freundeten uns schnell an. Für mich war es nicht einfach, die Insel zu verlassen. Rodrigues und seine Einwohner waren mir ans Herz gewachsen.

Fernes Polynesien

Zurück in Frankreich nahm ich meine Tätigkeit als Fotograf mit neu gewonnenem Selbstbewusstsein wieder auf. Ich erhielt fortlaufend neue Aufträge und konnte meine Bilder veröffentlichen. Mein Weg in der Segel- und der Offshore-Regattaszene schien vorgezeichnet. Ein Jahr später rief mich Philippe Clais, der Kapitänsreeder der Tara an.

  • Philippe: «Salut. Hast du Zeit für eine neue
    Mission?
  • Ja klar! Wohin soll’s denn gehen?
  • Auf die Gambier-Inseln. Du würdest in vier
    Monaten in Hawaii wieder von Bord gehen.
  • Wohin?
  • Auf die «Gaambieer»-Inseln in FranzösischPolynesien!
  • Ach du grüne Neune!

Die Gambier-Inseln, 1650 Kilometer von Tahiti entfernt, liegen am Ende der Welt und sind die Seele Französisch-Polynesiens. Auf dem kleinen, von einem 90 Kilometer langen Riff umgebenen Archipel wird die berühmte schwarze Tahiti-Perle produziert. Sie bringt dem Land jährlich 67 Millionen Euro und ist somit nach dem Tourismus die wichtigste Einnahmequelle. Über die Lagune verteilt liegen 90 Perlfarmen! Nach 21 Stunden landete mein Flug aus Paris in Tahiti. Es folgte ein weiterer vierstündiger Flug. Gebannt starrte ich auf das schillernde Blau der Lagune. Ich erkannte sogar die Tara, die sich nach ihrer einmonatigen Reise aus Guayaquil in Ecuador am Pier ausruhte. Die Crew wartete auf die Ablösung. Im Gegensatz zum Planktonfischen, bei dem die Besatzung des Forschungsschiffs mitten im Südpazifik zum Spielball der Wellen wurde, befassten wir uns mit Korallen und lagen daher meistens vor Anker. Wir konnten die Inseln erkunden und Land und Leute kennenlernen. Die Bewohner erwiesen sich als unglaublich gastfreundlich. Sie schenkten uns schubkarrenweise Früchte. Jede Insel ist ein Garten Eden. Die Bäume sind prall gefüllt mit saftigen Grapefruits, Zitronen, süssen Papayas und allen möglichen anderen exotischen Früchten. Obwohl ich 15 Personen bekochen musste, hatte ich nicht das Gefühl zu arbeiten. Den anderen ging es offensichtlich gleich.

Erster Kontakt mit der polynesischen Kultur

Die Inselbewohner bereiteten sich auf das traditionelle Juli-Fest Heiva vor. Sie nutzen den Anlass, um ihren Nachfahren ihre altüberlieferte Kultur zu vermitteln. Jeden Abend nach dem Essen leerte sich die Tara. Im Dorf probten die Tanztruppen. Die betörenden Rhythmen des Pahu und die verführerischen Bewegungen der Tänzerinnen und Tänzer beschwören die Vergangenheit Polynesiens herauf. Sie ahmen Szenen aus dem mystischen Leben ihrer Urahnen nach. Stammestänze waren schon immer ein Mittel des Ausdrucks und der Kulturvermittlung. Jeder erzählt eine Legende und die Geschichte eines Volkes. Wir wurden eingeladen, beim Umzug den Einbaum zu tragen, aus dem Miss Rikitea auf das Volk herabwinkte. Mit nacktem Oberkörper und schwarzem Sarong stemmten wir die Königin des Festes in die Höhe. Polynesier lieben Schönheitswettbewerbe. Kein Wunder, sie sehen mit ihrem prachtvollen Blumenschmuck und den schwarzen Perlen umwerfend aus. Es war unsere letzte Nacht, morgen würde die Korallenmission enden. Als wir erschöpft ins Bett fielen, dämmerte es bereits. Am 15. Juli 2011 verliessen wir die Gambier-Inseln. Mit feuchten Augen und gedankenversunken lenkte ich das Dinghi und wies der Tara den Weg aus der Lagune. Am anderen Ende der Funkverbindung sprach unser Kapitän Hervé Bourmaud mit zittriger Stimme. Der Abschied fiel auch ihm schwer. Das neue wissenschaftliche Team wartete jedoch bereits an Bord. Unsere nächste Mission bestand darin, das Plankton vor den Marquesas zu untersuchen. Das war zumindest ein wenig Balsam auf unsere Seele.

Ein ganz besonderer Moment

Es folgte eine angenehme einwöchige Fahrt vor dem Wind, Richtung Nordost. Ich war jeweils der erste, der aufstand, denn ich bereitete das Frühstück zu. Um diese Zeit war neben mir nur die Wache auf den Beinen. Hervé und mir wurde an diesem Morgen nach sechs Tagen auf See ein besonderes Privileg zuteil: Wir erlebten, wie die Marquesas langsam im Gegenlicht auftauchten. Oben auf den Bergen erkannte ich grosse Basalttürme. Am Horizont überlagerten sich Schichten von dunstigen Reliefs in allen möglichen Mauvetönen. Eine Farbexplosion nur für uns! Wir hatten unglaubliches Glück, denn in den nächsten Wochen sollte kein Tag wie der andere sein. Die Strömungen, in denen die Wissenschaftler Planktonproben nahmen, ziehen nahe an den Inseln vorbei, sodass wir jeden Abend in einer anderen Bucht ankerten. So hatten wir Gelegenheit, die Lokalbevölkerung kennenzulernen. Sie hat Ähnlichkeiten mit den schroffen Bergen und sanften Tälern ihrer Inseln. Marquesaner sind temperamentvoll und rührend zugleich. Kultur und Familie, Gastfreundschaft und Mut gehören zu den wichtigsten Werten. Geklagt wird nicht, man nimmt das Leben, wie es kommt.

Zukunftsweisender Landgang

Das flaue Gefühl im Magen meldete sich zurück. Wir würden auch diese Inselgruppe schon bald wieder verlassen müssen, denn wir wurden in Papeete, Tahiti, erwartet. Der Wunsch, den Tagtraum noch etwas weiterzuträumen, war aber so gross, dass Hervé und ich nach einer Möglichkeit Ausschau hielten, den Aufenthalt zu verlängern. Und wir wurden fündig: Fakarava im Tuamotu-Archipel lag genau auf unserer Route. Wir hatten drei Tage Vorsprung, daher war auch sofort klar: Wir würden hier einen «obligatorischen post-marquesanischen Zwischenstopp» einlegen. Rauf auf die feinen Sandstrände und rein ins türkisfarbene Wasser! Völlig unverhofft sollte dieser Zwischenstopp mein Leben verändern. Ich begegnete dort dem Fischer Ato. Er hatte kein Segelboot wie seine Kollegen auf Rodrigues. Der Motor habe die Segel vor einem halben Jahrhundert verdrängt, erklärte mir Ato. Ich verspürte plötzlich den dringenden Wunsch, Segel für Ato und seine Kollegen herzustellen. Doch ganz so einfach war das nicht. Wie bei Hochseeregatten musste ich ein Projekt ausarbeiten, ein Team bilden und ein Dossier erstellen, um Geldgeber zu finden. Die Maschine kam schnell ins Rollen, es gab kein Zurück mehr. Ich versprach Ato, dass ich zurückkommen würde. Er freute sich, doch ob er mir glaubte? Vielleicht war ich für ihn nur ein junger Popa’a mit zu viel Fantasie. Ein paar Monate später fand ich eine Möglichkeit, mich in Tahiti niederzulassen und mich mit den polynesischen Segelpirogen zu befassen, aus denen später die Mehrrümpfer hervorgingen.

(Lesen Sie die Fortsetzung in der nächsten Ausgabe)


Praktische Tipps

Für massgeschneiderte Reisen und/oder Törns: my charter, info@mycharter.ch, mycharter.ch

Anreise

Im Normalfall wird Papeete von drei Fluggesellschaften angeflogen: Paris, Air Tahiti Nui und French Bee. Ein Hin- und Rückflug kostet mindestens 1200 Euro. Die Flugzeit beträgt 22 Stunden. Von Papeete erreicht man die Gambier-Inseln mit einem Inlandflug, der nur von Air Tahiti angeboten wird. Der Direktflug dauert 3,5 bis 4 Stunden. Für die Marquesas gelten ähnliche Preise und Zeiten.

Highlights

Gambier-Inseln: Sie liegen alle in der gleichen Lagune, haben alle ihren ganz eigenen Reiz und sollten unbedingt alle besichtigt werden. Sie sind touristisch kaum erschlossen, erwarten Sie also keine Dienstleistungen wie auf Bora Bora oder Morea.

Marquesas: Für einen ersten Besuch empfehle ich die südliche Gruppe und dort insbesondere Hiva Oa, wo ich ein Jahr gelebt habe. Die Insel hat neben den Gräbern von Brel und Gauguin auf dem Friedhof von Atuona viel Archäologie und zahlreiche Aktivitäten zu bieten (Reiten, Bootsfahrten, Hochseefischen, Tauchen u.v.m.). Von Hiva Oa gelangt man schnell zur Insel Tahuata (600 Einwohner, viel Kunsthandwerk, Bildhauerei) und zu der etwas weiter gelegenen Insel Fatu Hiva. Sie haben keinen Flughafen und deshalb auch ihre Ursprünglichkeit bewahrt.

Klima

– Die Gambier-Inseln liegen auf dem 23. südlichen Breitengrad, die Marquesas verteilen sich zwischen dem 7. und 10. südlichen Breitengrad (Tahiti befindet sich auf der 17. südlichen Breite). Entsprechend unterschiedlich ist das Klima.

– Auf den Gambier-Inseln kann das Thermometer im Winter auf 13° C fallen – für Polynesien ein Negativrekord. Der Jahresdurchschnitt liegt bei 20° C. Packen Sie ein paar warme Sachen ein, vor allem für die dortige Winterzeit zwischen Juni und August.

– Auf beiden Inselgruppen kann es heftig regnen. Wasserdichtes Regenzeug gehört daher ebenfalls ins Gepäck.

– Auf den Gambier-Inseln dauert die Regenzeit von Januar bis April und meldet sich dann abgeschwächt zwischen Juni und Oktober nochmals zurück.

– Die Marquesas sind deutlich weniger regnerisch als das restliche Polynesien und man kann das ganze Jahr über gut reisen. Allerdings weiss ich aus eigener Erfahrung, dass es in den El-Niño-Jahren zwischen Februar und April auch täglich regnen kann.