Die Piratenzunft von Ouchy wird 90
In Genf gehört die Neptune aus dem Jahr 1904 zum Stadtbild. In Lausanne und Umgebung zieht die Vaudoise alle Blicke auf sich. Das denkmalgeschützte Segelschiff ist der Stolz der Piratenzunft von Ouchy. Früher transportierten die «Barques du Léman» Steine und Waren, heute werden sie für Vergnügungsfahrten eingesetzt.
Bevor der Genfersee zu einem renommierten Regattarevier wurde, diente er ganz pragmatisch dem Warentransport. Zigtausend Kubikmeter Steine wurden von Meillerie nach Genf geschifft, wo viele herrschaftliche Gebäude entstanden. Die Genferseefrachter mit ihren unverkennbaren Lateinersegeln erlebten damals ihre Blütezeit. Sie wurden von ihren Besatzungen mit sicherer Hand von einem Ufer zum anderen gebracht. Die Seeleute kannten den See und seine Winde wie ihre eigene Hosentasche und wussten immer genau, wo sie den besten Wind erwischten. Noch heute spricht man in Erinnerung daran von der «Route des Barques». Die letzte Brick namens Violette – ein etwas kleinerer Genferseefrachter als die Neptune – lief 1932 in Locum vom Stapel. Als ihr Besitzer Eloi Giroud 1948 sein Transportunternehmen schloss, sollte die Violette verschrottet werden. Die Zunft «Confrérie des Pirates d’Ouchy» und ihr Gründer Dr. Francis-Marius Messerli bekamen Wind von der geplanten Abwrackung und stoppten das Vorhaben. Ohne zu wissen, worauf sie sich einliessen, kauften sie den «kleinen» 30-Tonner und machten ihn zu ihrem Flaggschiff. Heute wird der einstige Frachtsegler für Rundfahrten und andere Anlässe genutzt.
WIE HIER DIE COMPAGNIE DES CENT-SUISSES AN DER FETE DES VIGNERONS 2019. ©Confrérie des Pirates d’Ouchy
Die Piraten von Ouchy pflegen enge Beziehungen zur «Commune libre et indépendante d’Ouchy», einem Verein, der sich für die Erhaltung des Charakters von Ouchy einsetzt. Wie am Genfersee jeder weiss, ist das Südquartier von Lausanne ziemlich eigen. Zu den Besonderheiten gehört auch die Confrérerie des Pirates d’Ouchy. Sie zählt 412 Mitglieder mit klar definierten Rollen. Auf Initiative ihres Gründers Dr. Messerli führte die Zunft bei ihrer Gründung die vier wichtigsten Gesellschaften von Ouchy zusammen: die Schifffahrtsgesellschaft (NANA), die Seerettungsgesellschaft (SNO), den Seglerverein Cercle de la Voile (CVL) und den Wassersportverein Union Nautique (UNOL). Die freie und unabhängige Gemeinde Ouchy, deren bekanntester Einwohner niemand geringerer als Jean-Pascal Delamuraz war, ist rebellisch veranlagt. Im 19. Jahrhundert lagen zwischen dem bürgerlichen Lausanne «oben am Hang», und Ouchy, dem Hauptort am Seeufer, Weinberge und Felder.
OBEREN GENFERSEE BEI
SONNENUNTERGANG. ©Confrérie des Pirates d’Ouchy
Diese geografische Trennung veranlasste Ouchy dazu, sich von Lausanne loszusagen. Die Gewaltentrennung geht ziemlich weit: Ouchy hat nicht nur eine eigene Flagge, Währung und Zeitung, einen eigenen Pass und ein eigenes Gemeindehaus, sondern auch einen eigenen Gemeindepräsi- denten, eigene Konsule und Botschafter. Sie sind immer noch im Einsatz, unter anderem in der Pariser Gemeinde Montmartre. Meuterisch wie alle traditionellen Zünfte des Kantons Waadt – die Milices vaudoises, die Brigands du Jorat und die Confrérie du Guillon – verstehen es die Pirates d’Ouchy meisterhaft, die Institutionen des oberen Lausanne und das Establishment im Allgemeinen zu provozieren. 2024 schickten sie nach einem Umzug durch die Altstadt ein paar ihrer Leute ins Rathaus und nahmen dort die Präsidenten des Stadtrats und des Grossrats als Geiseln. Im Eifer des Gefechts schoss ein Novize im wahrsten Sinne des Wortes übers Ziel hinaus. Er feuerte die Kanone ab (die Piraten von Ouchy haben ihre eigene Artillerie) und zielte auf ein Fenster des gegenüberliegenden Gebäudes über dem Café du Raisin! Es sollte nicht der letzte Fehlschuss bleiben. Etwas später im Sommer ereignete sich am Start zur 47. Régate des Vieux-Bateaux in La Tour-de- Peilz beim Start ein weiteres Missgeschick. Die Besatzung der Vaudoise hatte den Schusswinkel ihrer kleinen Bronzehaubitze nicht richtig eingestellt. Obwohl es sich um eine Platzpatrone handelte, durchschlug die Ladung die Segel eines anderen Bootes. Aus Piraten kann man eben keine Heiligen machen, fragen Sie Jack Sparrow! Die Brigands du Jorat sind im Übrigen aus dem gleichen Holz geschnitzt. Sie schrecken nicht einmal davor zurück, die Zugstrecke Bern-Lausanne zu blockieren. Die Vaudoise hat eine ereignisreiche Geschichte hinter sich. Sie hat Glanz- zeiten, aber auch Tiefschläge erlebt. Als der Rumpf in den 1970er-Jahren Anzeichen von Schwäche zeigte, empfahlen namhafte Schiffsingenieure und nicht minder prominente technische Berater, das Unterwasserschiff mit Glasfaser- und Epoxidharz zu plastifizieren. Gesagt, getan. Doch das vermeintliche Heilmittel entpuppte sich als Katastrophe. Die Eichenplanken konnten unter der erstickenden Schicht nicht mehr atmen und begannen zu faulen. Um das Boot zu retten, musste der komplette Rumpf bis auf ein 3,50 Meter langes Kielstück, das sich bis heute im Originalzustand befindet, rückgebaut werden. 1980 wurde der Frachtsegler in die Werft Sartorio im Genfer Mies gebracht, wo er drei Jahre restauriert wurde. Im Herbst 2014 folgte eine zweite sechsmonatige Restaurierung. Zu den unbestrittenen Höhepunkten der Zunft und ihres schwimmenden Maskottchens gehört die Teilnahme an den Fêtes Maritimes 2004 in Brest. Man muss sich vorstellen: Ein 22,65 Meter langes, 6,90 Meter breites und 25 Tonnen schweres Schiff wurde quer durch Frankreich transportiert. Eine Herkulesaufgabe! Natürlich hatte der Spezialtransport seine Tücken. Er musste sogar einige Kreisverkehre in Gegenrichtung umfahren, sonst wäre kein Durchkommen gewesen. Doch der Aufwand hat sich gelohnt: Das Boot der Piraten machte erstmals in seiner Geschichte Bekanntschaft mit dem Atlantik. Die Piratenzunft von Ouchy und die freie, unabhängige Gemeinde Ouchy unter der Federführung des «Grand Patron» Gérald Hagenlocher und des «Syndic» Christophe Andreae setzen sich aktiv dafür ein, das Segeln mit Lateinersegeln von der UNESCO anerkennen zu lassen. 2026 soll es soweit sein.
Die Frachtsegler vom Genfersee
- Neptune, Genf (1904)
- Vaudoise, Ouchy (1932)
- Savoie, Evian (Nachbau aus dem Jahr 1997)
- La Demoiselle, Villeneuve (Neubau aus dem Jahr 1999)
- Aurore, St. Gingolph (Nachbau aus dem Jahr 2000)