Ella Maillart war nicht nur eine der bedeutendsten Fotografinnen und Reiseschriftstellerin des 20. Jahrhunderts, sondern auch die talentierteste Seglerin ihrer Generation. Sie vertrat die Schweiz an Olympischen Spielen, unternahm lange Entdeckungsreisen und übte unzählige Sportarten und Berufe aus. Die Weltentdeckerin galt als Inbegriff der modernen Frau, die ihrer Zeit weit voraus war.

Text: Carinne Bertola

Ella Maillart (1903–1997) verbringt in ihrer Kindheit die Monate Mai bis Oktober jeweils in Creux-de-Genthod am Genfersee. Von ihrer Mutter ermutigt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, entwickelt sie in vielen Sportarten überdurchschnittliche Fähigkeiten. Die Faszi- nation fürs Segeln verdankt sie ihrer um ein Jahr älteren Freundin Hermine de Saussure. Die beiden Mädchen erkunden die Bucht von Creux-de-Genthod im Ruderboot und Ella Maillart gewinnt mit 14 Jahren ihre erste Regatta. Als begeisterte, aber mittellose Seglerin bleibt ihr nichts anderes übrig, als sich Boote auszuleihen. 1918 zieht sie mit Poodle II im unteren Genferseebecken ihre Bahnen. Sie meldet sich für Regatten der 6,50-Meter-Klasse an, die sie jedoch dreimal abbrechen muss. Ihr altes SNG-Einheitsboot mit Baujahr 1900 ist den neueren Modellen einfach nicht gewachsen. 1922 kann sie ihre Ambitionen mit der 6,50-Meter-Jacht Gipsy hochschrauben. Sie gewinnt damit nicht nur die Genève-Rolle-Genève, sondern vor rund dreissig Konkurrenten auch die Coupe Marcet, die damals prestigeträchtigste Regatta auf dem See. Dank ihres immensen Talents wird sie ohne weitere Formalitäten in die SNG aufgenommen. 1923 erhält sie zusammen mit Hermine de Saussure, mit der sie auf der Perlette vor der Côte Azur kreuzt und immer wieder an Regatten teilnimmt, vom Yacht Club de France die Goldmedaille verliehen. Mit Konventionen hat Ella Maillart nichts am Hut. Als Antikonformistin ist sie sich auch nicht zu schade, sich selbst um die Instandhaltung ihrer Boote zu kümmern. Nachdem sie einige Regatten auf der brandneuen 6,50er-Anker- Jacht Gipsy bestritten hat, korrespondiert sie mit dem Bootskonstrukteur Quernel, weil sie das Rigg modernisieren will. Für damalige Zeiten ein ziemlich dreistes Vorgehen. Sie ist knapp 20, hat aber bereits eine solide Reputation und einen bärenstarken Willen. Virginie Hériot lädt sie ein, auf dem Schoner Ailée an der Regattes Royales de Cannes teilzunehmen.

HERMINE DE SAUSSURE (IM BUG) UND ELLA MAILLART (UNTER DEM KRANHAKEN) AUF DER 6,5-METER-JACHT GIPSY AN DEN INTERNATIONALEN REGATTEN VON EVIAN, 1923. DAS ERSTE FRAUENTEAM WAR EINE SENSATION!

Erste olympische Skipperin

Anfang 1924 werden im Genferseeraum die lokalen Selektionen für die 8. Olympischen Spiele angekündigt, doch es meldet sich niemand. Auf dem Genfersee regattiert kein Sechser und auch kein Achter, denn dort sind die Segler der Godinet-Vermessung treu geblieben. Ella Maillart hat zwar keine Erfahrung mit Jollen, will ihr Glück aber dennoch versuchen. Kampfbereit vertritt sie die Schweiz in Meulan. Die 21-Jährige ist nicht nur die einzige Frau unter den Athleten aus 17 Nationen, sondern auch die erste, die an einem olympischen Wettkampf ein Boot steuert. Da sie sich nicht traut, gegen einen Gegner Protest einzulegen, wird sie lediglich 9. und ihre Leistung bleibt praktisch unbemerkt. Dennoch ebnet sie als weibliche Ausnahmeerscheinung den Weg für künftige Wettkämpferinnen. Im Gegensatz zu ihren Vorgängerinnen schafft sie die Selektion nicht, weil sie reich ist oder einen Ehemann mit guten Beziehungen hat, sondern einzig und allein dank ihres Talents. Die Zeitschrift Suisse Sportive widmet ihr 1925 einen begeisterten Artikel, in dem sie die Vorkämpferin als Pionierin des Schweizer Sports im Unihockey, Segeln und Skisport bezeichnet. 1928 gewinnt die Französin Virginie Hériot als erste Steuerfrau im Achter Olympia-Gold. In der Schweiz muss man lange auf eine zweite Seglerin in der Olympiadelegation warten. Erst 1992 schafft Nicole Meylan den Sprung in die Auswahl. Maillarts 9. Platz an den Spielen von 1924 bleibt bis 2006 das beste Ergebnis einer Schweizerin.

ELLA MAILLARTS OLYMPISCHER PASS AN DEN SPIELEN 1924 IN PARIS

Vom Schiffsmädchen zur Kapitänin

Der Preis für ihren Ehrgeiz ist hoch. Da sie so sehr mit trainieren beschäftigt ist, fällt sie durch ihr Studium. Mit 22 Jahren steht sie ohne Beruf da und beschliesst, nach England zu gehen, um ihre Sprachkenntnisse zu verbessern. Wenig später heuert sie als Schiffsmädchen und Köchin an. An Bord der Volunteer steigt sie vom Schiffsmädchen zur Kapitänin auf. Eine gute Seglerin zu werden ist für sie die einzige Möglichkeit, «ein intelligentes Leben fernab der Exzesse der Zivilisation» zu führen. Nach einem ersten erfolgreichen Törn wird sie von Hermine de Saussure 1925 zu einer Expedition auf der Bonita und 1926 auf der Atalante eingeladen. Sie macht die Schiffe klar und arbeitet an Bord als Erste Offizierin.

Zurück in England schifft Ella Maillart auf der Insoumise ein. Sie will sich damit einen Kindheitstraum erfüllen und in den Pazifik gelangen. In der Hoffnung, die Seefahrt zu ihrem Beruf machen zu können, arbeitet sie gleichzeitig intensiv an ihren fotografischen und journalistischen Fähigkeiten. Bei einer Einladung auf die Shamrock IV gelingt ihr eine ihrer schönsten Aufnahmen. Durch die Weltwirtschaftskrise von 1929 um die Möglichkeit beraubt, mit Artikeln über den Wassersport ihren Lebens- unterhalt zu verdienen, bricht sie zu einer Reise in die Sowjetunion auf, verarbeitet die Erlebnisse in einem Buch und wird zur gefeierten Autorin. Das Segeln gibt sie dennoch nicht auf. Sie betreibt es als Hobby und fährt als Gast auf der Windrush, der Forban, der Tsu Hang und auf anderen bekannten Schiffen mit. Mit 88 Jahren (!) unternimmt sie ihren letzten Törn von Grenada nach Antigua.


ELLA MAILLART MIT 30 JAHREN ALS STEUERFRAU DER WINDRUSH. DEN 1903 NACH PLĂ„NEN VON HERRESHOFF GEBAUTEN KREUZER GIBT ES NOCH IMMER. ER IST HEUTE UNTER DEM NAMEN MIMOSA III IN SANARY STATIONIERT

Insgesamt hat Ella Maillart am Steuer von Gipsy auf dem See und von Rose de Mai, Feu Follet und Chardon Bleu auf dem Meer an fast 60 Regatten auf 6,50- und 8,50-Meter-Booten teilgenommen. Im Schlussklassement belegte sie meist einen Platz unter den ersten fünf. Im Gegensatz zu ihrem Zeitgenossen Louis Noverraz wurden ihr nie die neusten Einheiten anvertraut, sie musste sich steht mit älteren Booten zufriedengeben. Auf dem Genfersee wurde sie damals als erste olympische Steuerfrau eher belächelt als bewundert. Zwischen 1922 und 1925 sorgte sie in einem reinen Frauenteam für mehrere Premieren auf dem Genfersee und auf dem Mittelmeer. Auf dem Meer legte sie zwischen 8000 und 10 000 Seemeilen zurück, fuhr an Bord von rund dreissig Schiffen mit und war manchmal monatelang unterwegs. Zwei Jahre vor ihrem Tod im Jahr 1997 unternahm sie in Begleitung von Léon Béchard einen letzten Ausflug nach Creux-de-Genthod. Auf der 7mR-Fife-Jacht Endrick, die seit 1913 auf dem Genfersee kreuzt und die sie bereits als Jugendliche bewundert hatte, meinte sie zufrieden: «Diesmal schliesst sich der Kreis».

Carinne Bertola ist die Autorin des Buchs Ella Maillart navigatrice. Libre comme l’eau, das im Verlag Glénat erschienen ist. Mithilfe des Fundus der Bibliothèque de Genève und des Museums Photo Elysee hat sie die Segelkarriere von Ella Maillart minutiös nachgezeichnet. Das Buch ist aber auch ein einzigartiges Zeugnis über die Anfänge des Schweizer Segelsports und das nicht nur aus reiner Frauenperspektive.

Eine Sonderausstellung im Bolle Museum in Morges gibt Einblick in das olympische Abenteuer und die bemerkenswerten seglerischen Leistungen der Schweizerin.